Engelkonzert:
Booklettext von Johannes Adam
Engel – das ist ein Begriff, der sich auch in unserer Umgangs- und Alltagssprache findet. Nach dem Verständnis der Bibel, wo sie im Alten und Neuen Testament vorkommen, und dem Wortsinn nach sind Engel indes primär Boten, die den Menschen das Wort, den Willen und die Gegenwart Gottes mitteilen. Im ersten Kapitel des Lukas-Evangeliums etwa wird vom Engel Gabriel berichtet, der Maria in Nazaret die Verheißung der Geburt Jesu überbringt: Mit den Worten „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“ soll er Maria angesprochen haben. Später dann ist es ein Engel, der den Hirten auf dem Feld bei Betlehem die Geburt des Messias verkündet. Auch im Kontext des Auferstehungsgeschehens am Ostermorgen ist von Engeln die Rede. Dass Kunst und Volksfrömmigkeit bisweilen zu einer Verniedlichung und Verkitschung beitrugen, ist mitnichten den Himmelsboten anzulasten.
In die Schöpfungen von Künstlern aller Sparten haben Engel als Sujet Einzug gehalten. So heißt der erste Satz der Sinfonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith „Engelkonzert“. Das Werk entstand 1934 in Zusammenhang mit der gleichnamigen Oper, die als bedeutendste Bühnenkreation und als Schlüsselwerk des gebürtigen Hanauers gilt. Das Bühnenwerk in sieben Bildern ist Künstleroper, historische Oper und, wenn man so will, auch ein geistliches Stück. Es geht um die Kämpfe und Probleme des Malers Mathis Gothardt-Neithardt (genannt Grünewald), der in Diensten des Erzbischofs von Mainz steht. Bevor er das mühsam selbst geschaffene Libretto abgeschlossen hatte, komponierte Hindemith eine dreisätzige Sinfonie, die er dann auch in der Oper nutzte. Uraufführung der Sinfonie war am 27. Februar 1934 unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler. Die erfolgreiche Sinfonie ist ein klingendes Triptychon („Engelkonzert“, „Grablegung“, „Versuchung des heiligen Antonius“) nach drei Tafeln von Grünewalds Isenheimer Altar. Eine besondere Rolle in Oper (aus der Taufe gehoben 1938 in Zürich) und Sinfonie spielt der Choral „Es sungen drei Engel ein’ süßen Gesang“ (Text und Musik: Mainz 1605). Der Kopfsatz der Sinfonie ist an der dreiteiligen Sonatenform orientiert und hat drei Themen. Die hier eingespielte luzide Orgelbearbeitung stammt von Ulrich Krupp (geb. 1967).
Auf den Engel als Künder der Weihnachtsbotschaft verweist Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch da komm ich her“. Über diesen Choral schrieb Johann Sebastian Bach ein „gelehrtes“ Kompendium: die so genannten Canonischen Veränderungen BWV 769 a. Seine Entstehung verdankt das Werk dem 1747 erfolgten Eintritt des Leipziger Thomaskantors als 14. Mitglied in die „Societät der musikalischen Wissenschaften“, die Bachs Schüler Lorenz Christoph Mizler 1738 gegründet hatte. Mindestens fünf Arbeitsphasen sind zu konstatieren. Zu unterscheiden sind überdies zwei Fassungen: die autografe Version, der die vorliegende Aufnahme folgt, und die Stichversion (Angaben in Klammern). Bach zeigt seine kontrapunktischen Künste. Variation I bietet einen Oktavkanon der Oberstimmen, die Choralmelodie liegt im Pedal. Variation II: Quintkanon der Oberstimmen, Cantus firmus auch hier im Pedal. Variation III (V): diverse Spiegelkanons, abschließend Engführung, Diminution und „alla Stretta“, dort Kombination der vier Choralzeilen. Zudem lässt sich die Tonfolge B-A-C-H ausmachen. Variation IV (III): Kanon in der Septim, dazu freie Stimme, Liedmelodie im Sopran. Variation V (IV): Oktavkanon in der Vergrößerung („per augmentationem“), Choral im Pedal. Der späte Bach – man denke an die „Kunst der Fuge“ – als konstruktivistischer Kontrapunktiker.
In eine völlig andere Klangwelt zeigt „Saluto angelico“ von Sigfrid Karg-Elert. Es handelt sich um den fünften Satz aus dem Zyklus „Cathedral Windows“ op. 106 von 1923. Eine musikalische, geradezu impressionistische Versinnlichung von gotischen Bildfenstern einer alten Kathedrale. „Diese Stücke liebe ich blödsinnig“, erklärte Karg-Elert, den man durchaus als Jugendstil-Komponisten apostrophieren kann. Er habe sie „in einem wahren Paroxismus religiöser Versenkung“ geschrieben, „als ich zum ersten Male mit dem gregorianischen Choral zusammengeriet“. „Saluto angelico“ ist eine Ave-Maria-Rezeption. Signifikant die Vortragsanweisung: „Larghetto mistico“. Mystische, ätherische Musik, die sich im unteren Bereich der Dynamikskala ereignet. Strukturen, die ganz auf den Klang hin konzipiert sind. Eine Kombination von Soloeffekten und Begleitung. Ein Satz, mit dem sich
(Klang-)Farben einer Orgel zeigen lassen.
In die niederbayerische Donaustadt Deggendorf führt die Choralpartita „Unüberwindlich starker Held, St. Michael“, die Fritz Goller 1973 zu Papier gebracht hat. Deggendorf war aber nicht nur die Heimat des Komponisten, der von 1914 bis 1986 lebte, sondern dort wurde auch der Interpret dieser CD geboren. Goller, ein Neffe des in Kirchenmusikerkreisen bekannteren Vinzenz Goller, formte aus dem Lied auf den Erzengel Michael eine Partita mit unverkennbar neobarocken Zügen. Wobei die einzelnen Sätze – dies ergibt sich aus den Überschriften – jeweils den einzelnen Liedstrophen zuzuordnen sind. Der Liedtext stammt von Friedrich Spee – das Grab des „Hexenanwalts“, Dichters und Seelsorgers befindet sich unter der Trierer Jesuitenkirche. Zunächst wird der Choral in schlichter Vierstimmigkeit exponiert. Eine schöne Idee hat Goller in der ersten Variation: Zu den Worten „Die Kirch’ dir anbefohlen ist“ führt er das – ja ebenfalls auf die Kirche bezogene – Lied „Ein Haus voll Glorie schauet“ (Joseph Mohr, 1876) im Kanon. In diesem Trio erscheint das Michaelslied solistisch im Pedal. Triolisch geprägt ist die nachfolgende Variation („Die Engel sind dein Königsheer“). Der nächste Abschnitt („Groß ist dein’ Macht“) ist phonstark vorzutragen. Der „Drachen“ in der nächsten Liedstrophe schlängelt sich zunächst durch die Pedalstimme, haucht dann nach und nach sein Leben aus, bis St. Michael ihm schließlich den letzten Schlag versetzt. „O komm mit deiner Ritterschaft“ präsentiert sich als „Trumpet air“. Das in E-Dur ausklingende Finale ist dynamisch zu steigern.
Engelsthematik findet sich auch bei Franz Liszt. „Angelus!“ von 1877 heißt das erste Stück des dritten Teils der „Années de pèlerinage“ („Wanderjahre“). Meditative Musik, die nicht für den Konzertsaal gedacht ist. „Angelus!“ ist ein Gebet zu den Schutzengeln. Der betagte Komponist hat es seiner Enkelin Daniela von Bülow zugeeignet. Das E-Dur-Stück im Sechsachteltakt mit der Vortragsanweisung „Andante pietoso“ ist, wie auch die anderen Beiträge der Kollektion, als Programmmusik zu verstehen. Glockenklänge – man beachte den Hinweis „dolce“ – bilden den Rahmen für eine große Steigerung. Eine Musik, die dennoch nach innen gerichtet ist, im Gegensatz zu den extrovertierten Liszt’schen Orgelwerken wie der monumentalen Fantasie über „Ad nos, ad salutarem undam“ oder der B-A-C-H-Hommage.
Ebenfalls in schützender Funktion erlebt man die Engel in der einschlägigen Szene der Märchenoper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck: „Abends, will ich schlafen gehn, vierzehn Englein um mich stehn“, heißt es da. Diese Oper ist Humperdincks Hauptwerk und zählt zu den wichtigsten Märchenopern überhaupt. Humperdinck hatte in München unter anderem bei Josef Rheinberger studiert und war von 1880 bis 1882 Assistent Richard Wagners in Bayreuth. „Hänsel und Gretel“, jenes Märchenspiel in drei Bildern, ist Humperdincks Erstling für die Opernbühne. Das Libretto hatte Humperdincks Schwester Adelheid Wette entworfen. Die bis heute beliebte und nicht zuletzt in der Weihnachtszeit gern gespielte Oper kam am 23. Dezember 1893 am Hoftheater Weimar unter der Leitung von Richard Strauss zur Uraufführung. Es gibt Wagner-Reminiszenzen (Orchesterapparat, Leitmotive). Es finden sich aber auch Elemente, die Volksliedcharakter haben. Prominentes Beispiel dafür ist eben der so genannte Abendsegen „Abends, will ich schlafen gehn“. Die Transkription für Orgel verdanken wir dem 1865 in London geborenen und 1934 in Los Angeles verstorbenen Edwin Henry Lemare.
Das „Ave Maria“ in A-Dur von Max Reger ist als Nr. 7 Bestandteil der „Monologe“, jenen zwölf Orgelstücken op. 63 aus der Münchner Zeit, konkret von Anfang 1902. Zu den bekanntesten Werken dieser Sammlung zählen zweifellos Introduktion und Passacaglia in f-Moll. Den Titel „Monologe“ hat Reger womöglich von Rheinberger übernommen, von dem 1890 unter diesem Etikett gleichfalls Orgelstücke auf den Markt gekommen waren. Mit dem „Ave Maria“ aus op. 63, dem ein gleichnamiges Werk (diesmal in As-Dur) in den Orgelstücken op. 80 an die Seite zu stellen ist, sehen wir Reger, der ja von Hause aus Katholik war, im marianischen Genre. In diesen Bereich gehören obendrein Exempel aus dem Chor- und Liedschaffen dieses für die Orgelmusik der deutschen Spätromantik so wichtigen Komponisten. Das „Ave Maria“ im lieblichen A-Dur aus den „Monologen“: Das ist verhaltene lyrische Orgelmusik – nicht zu schnell („Andante sostenuto“), nicht zu laut, nicht zu schwer. Und doch mit typisch Reger’schem Espressivo. Innige Musik für die Pastellfarben der Orgel. Geeignet für Gottesdienst und Konzert. „Ave Maria“: Da ist die Gottesmutter gemeint, der seinerzeit der Gruß des Engels galt.
Bei „In Paradisum“ von Théodore Dubois kommt eine weitere Konnotation des Engelthemas zum Tragen: Sie bezieht sich, wie es im Text Maria Luise Thurmairs zu einem Engellied umrissen wird, auf unseren „letzten Gang durch Todesnot und Grauen“. Und was tut der Engel? „Er wird die Flügel breiten und uns aus dem Gericht in Frieden heimgeleiten vor Gottes Angesicht.“ Das „In Paradisum“ („Zum Paradies mögen Engel dich geleiten“) ist, und zwar auf dem Weg zum Grab, Bestandteil der Begräbnisliturgie. „In Paradisum“: Sätze mit dieser Überschrift findet man in den Requiem-Vertonungen der Franzosen Gabriel Fauré und Maurice Duruflé. Diesen Titel trägt eben auch das Werk von Dubois, das dem italienischen Komponisten Marco Enrico Bossi gewidmet ist. Dubois, der in einem Dorf bei Reims geboren worden war und von 1896 bis 1905 als Direktor am Pariser Conservatoire amtierte, ist Orgelfreunden vor allem durch seine motorische Toccata ein Begriff. Eine gewisse Motorik (Sextolen!) weist auch das Paradies-Stück auf – ob diese Bewegung den Flügelschlag der Engel symbolisieren soll? Ein ausgesprochen klarer, transparenter G-Dur-Satz.
Es gibt nicht nur Posaunenengel (wie man sie vom Freiburger Münster kennt), sondern auch Trompetenengel: „L’ange à la trompette“ – so hat Jâcques Georges Paul Charpentier sein „Prélude pour Grand Orgue“ genannt. 1933 in Paris geboren und keinesfalls zu verwechseln mit seinem barocken Namensvetter Marc-Antoine, hat Charpentier ein Werk vorgelegt, das mit dem großem Orgelklang rechnet, ohne das Filigrane, die Reduktion, zu ignorieren. Ein ziemlich eigenes Werk, in dem allerdings Olivier Messiaens Vogelwelt mitunter Spuren hinterlassen hat. Fanfarenartig und eher gravitätisch der Beginn. Ein erheblich schnellerer Teil folgt. Die Rückkehr zum Ausgangstempo vollzieht sich im dreifachen Forte. Doch dabei bleibt es nicht. Sogar das Wörtchen „dolce“ taucht auf. Über ein Crescendo wird bald ein weiterer Kraftausbruch erreicht. Eine, mit einem Perpetuum mobile vergleichbare, nicht mehr abreißende Sechzehntelkette begleitet den weiteren Verlauf. Den Ausklang bilden vier gewichtige, von wuchtigen Pedalquinten getragene „Largo“-Takte, die auf dem tiefsten Ton C basieren. Engel (und Boten) haben gesprochen. Ihre Botschaft geht uns alle an.
Besprechung in Zeitschrift "De Orgelvriend" (NL) 2008
Auch eine überraschende Scheibe, aber in einem ganz anderen Sinn, ist die CD, die Josef Still auf "seiner" noch immer imposant erscheinenden Klais-Orgel (1974) im Trierer Dom für das junge Label Organum aufgenommen hat. Es ist nicht so sehr eine CD, die beim Hörer für ein ultimatives "Weihnachtsgefühl" sorgt, wohl aber hat sie ein interessantes Programm rund um das Thema "Engel". Da gibt es als Erstes das Engelkonzert, eine Transkription des ersten Satzes aus der Sinfonie "Mathis der Maler", die Paul Hindemith 1934 in Vorbereitung auf seine gleichnamige Oper über das Leben des Malers Matthias Grünewald komponierte. Eigentlich sollte man in diesem Programm eher das Concerto "Es sungen drei Engel" von Hindemiths Zeitgenossen Hans Friedrich Micheelsen erwarten. Bei diesem Engelkonzert liegt aber tatsächlich derselbe Choral zugrunde und es ist interessant zu hören, wie Hindemith diese Thematik bearbeitet.
In einem solchen Programm dürfen Bachs "Canonische Veränderungen über Vom Himmel hoch" natürlich nicht fehlen, wenngleich auch der Choral "Vom Himmel kam der Engelschar", BWV 607, aus dem Orgelbüchlein passend gewesen wäre. Die Klais-Orgel von Trier kann als "Kompromissorgel" im besten Sinne des Wortes gelten, so wie es im Kapitel "Die Orgel als Klangskulptur" im 36 (!) Seiten zählenden Booklet zu lesen ist. Und in der Tat klingt Bach in Trier genauso befriedigend wie beispielsweise Karg-Elerts Saluto angelico aus seiner impressionistischen Suite "Cathedral Windows". Dass Still die bei uns völlig unbekannte Partita von Fritz Goller (1914 - 1986) auswählte, hat einen bestimmten Grund: Still wurde im selben Bayrischen Ort (Deggendorf) geboren, wie der Organist. Der "Angelus" (vollständig Angelus Domini, "Der Engel des Herrn") ist ein katholisches Gebet, das von alters her drei Mal am Tag gebetet wird. Morgens um sechs, um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends. Es wird durch das Läuten einer kleinen Glocke angekündigt, die Franz Liszt in seinem "Angelus!" aus "Années de pèlerinage" darstellt. Auch in der Märchenoper "Hänsel und Gretel" von Engelbert Humperdinck gibt es eine Engelszene (Abends, will ich schlafen gehn), die durch den bekannten englischen Organisten/Komponisten Edwin Lemare für Orgel bearbeitet wurde. Am Ende erklingt hier eine der Röhrenglocken, die zur Klaisorgel gehören. Mit dem "Ave Maria" aus Max Regers Monologe, Opus 63, erreichen wir wieder das Terrain der echten Orgelmusik. Es ist eins von Regers berühmten kurzen, lyrischen Werken, das, durch viele Tonarten wandelnd, andauernd das Herz anspricht. Engel als ein musikalisches Motiv: dies kann sich in einer paradiesischen Vision ausdrücken (Dubois, In Paradisum), oder auch als klingende Botschaft, so wie es der 1933 geborene Jacques Georges Paul Charpentier in seinem "L'Ange à la Trompette" getan hat. Ein Werk mit kräftigen Kontrasten, von großen und intimen Orgelklängen, mit denen er sagen will: "Die Engel haben gesprochen. Die Botschaft geht uns alle an." Die Stereoaufnahme ist sehr direkt; es ist aber möglich, dass eine Fünfkanalwiedergabe, zu der die CD in der Lage ist, dem Raum besser gerecht wird. Das Booklet ist vorbildlich.
Gerco Schaap
Übersetzung: Gerhard W. Kluth
Besprechung in www.klassik.com von Dominik Axtmann (Ausgabe vom 15.12.2008)
Was der Trierer Domorganist Josef Still da zum Thema ‘Engel’ zusammengetragen hat, ist eine hochinteressante Melange aus etablierter Orgelliteratur und lohnenswerten Raritäten. Johann Sebastian Bachs Canonische Veränderungen über ‘Vom Himmel hoch da komm ich her’ und Max Regers ‘Ave Maria’ sind da noch die bekanntesten Werke – umso spannender, was es zu entdecken gilt.
Da ist zum einen das Titel stiftende ‘Engelkonzert’ aus der Sinfonie ‘Mathis der Maler’ von Paul Hindemith in einer Orgeltranskription von Ulrich Krupp. Eine besondere Rolle spielt dabei der Choral ‘Es sungen drei Engel ein’ süßen Gesang’, der Gelegenheit zum solistischen Spiel mit den zeittypischen kurzbechrigen Zungen (Vox humana) und den Aliqouten gibt. Überhaupt scheint die Orgel für Hindemith am besten geeignet zu sein. Auch wenn man sicherlich an diesem 67-registrigen Instrument der Bonner Firma Johannes Klais, das als Schwalbennest im Zuckerbäckerstil auch ein ungewöhnliches optisches Vergnügen bereitet, Orgelmusik aller Epochen darstellen kann und es für sein Baujahr (1974) eine beachtliche klangliche Wärme vorweist, kann sie in den romantischen Stücken weniger überzeugen und ihre zeittypische ‘neobarocke’ Intonation nicht verleugnen. Allerdings: warum auch? Längst hat man erkannt, dass qualitätvoll gebaute Instrumente dieser Epoche – und die Klais-Orgel des Trierer Doms darf man getrost dazu zählen - ihren eigenen Charme besitzen. Für den Organisten gilt es jeweils, diesen geschickt als Stärke auszuspielen. Josef Still kennt sein Instrument genau und verfügt über genügend technische Souveränität und vor allem Spielwitz, seine Orgel bei allen Stücken überzeugend klingen zu lassen.
Ungewöhnliche Klangfarben
So entlockt er ihr immer wieder Klangfarben, die auch der Orgelkenner nicht sofort vermuten würde, beispielsweise im ‘Saluto angelico’ aus den ‘Cathedral Windows’ von Sigfrid Karg-Elert mit verschiedenen Schwebungs-Effekten. Fritz Gollers Choralpartita ‘Unüberwindlich starker Held, St. Michael’ enthält auch die Melodie des bekannteren ‘Ein Haus voll Glorie schauet’ und darf als Repertoireergänzung höchst empfohlen werden, besonders wegen des Drachenkampfes. Die genialen Übertragungen des amerikanischen Konzertorganisten Edwin H. Lemare, aufgrund ihrer technischen Schwierigkeiten gefürchtet, gelten mittlerweile als eigenständiger Beitrag zu Orgelliteratur und finden immer öfter auch in europäische Konzertprogramme Eingang. Die Engelszene aus Engelbert Humperdincks Märchenoper ‘Hänsel und Gretel’ mit dem herzergreifenden Abendsegen ‘Abends, will ich schlafen gehen, vierzehn Engel um mich stehn’ ist ohne jeden Kitsch, aber höchst sensibel gespielt.
Schöne Flötenstimmen kommen immer wieder zum Einsatz, sei es solistisch oder als Sextolen-Begleitung in Theodore Dubois’ ‘In Paradisum’. Beachtlich die dynamische Bandbreite und Differenzierungsfähigkeit der Orgel besonders im unteren Lautstärkebereich – dank des geschickten Registrierens des Organisten, das in Jâques Georges Paul Charpentiers (übrigens nicht zu verwechseln mit dessen barocken Namensvetter Marc-Antoine) ‘L’Ange à la Trompette’ sogar täuschend glockenähnliche Klänge hervor zaubert. Gerade dieses letzte Stück, bei uns kaum bekannt, ist ein visionäres, postsymphonisches Prélude, das mit dem großen Orgelklang rechnet, ohne das Filigrane zu ignorieren (mitunter hat hier Olivier Messiaens Vogelwelt ihre Spuren hinterlassen). Ein Werk von größter Aussagekraft, wie die ganze CD.
Hohe Aussagekraft
Josef Stills Spiel hat nichts Akademisches an sich, sondern wirkt frisch und zupackend, jedoch stets mit der nötigen Sensibilität. Nicht jede gute Orgel-CD kann man am Stück hören – diese schon. Das Klangbild SACD-Surround-Sound ist optimal, natürlich und kräftig. Cover und Booklet sind ansprechend gestaltet, letzteres mit lesenswerten, dreisprachigen Informationen zur Thematik, den eingespielten Werken, der Orgel und dem Organisten.
Eine rundum überzeugende Produktion des schwäbischen Orgellabels Organum Classics.
(Engelkonzert - Josef Still - Klais-Orgel Dom Trier - Organum Classics Ogm 267014 (SACD Multichannel) - Spieldauer 70'59')