Geboren am 4. März 1833, gestorben am 18. Januar 1885 in Trier. Abitur am Jesuiten-Gymnasium (heute Friedrich-Wilhelm-Gymnasium). Seit früher Jugend von seinem Bruder Matthias (1820 bis 1879), Organist an St. Gangolf, praktisch und theoretisch in der Musik unterwiesen, spielte er als Zehnjähriger im Gottesdienst Orgel und war 1852 bis 1855 in Ettelbrück (Luxemburg) als Organist, Gesanglehrer an den Primär- und Höheren Schulen und als Leiter des Männerchores sowie des Musikvereins tätig. 1855 Beginn der theologischen Studien am Priesterseminar Trier. 1859 Priesterweihe. 1859 bis 1862 Kaplan in Cues und Bernkastel. 1862 Domorganist, Dommusikdirektor und Gesanglehrer am Priesterseminar in Trier. 1869 gründete er den Diözesan-Cäcilienverein Trier und 1872 den Verein zur Erforschung alter Choralhandschriften. 1872 bis 1878 Schriftleiter der (1862 von Heinrich Oberhoffer begründeten) Kirchenmusik-Zeitschrift “Cäcilia”. 1875 bis 1885 ordentliches Mitglied der Gesellschaft für Musikforschung. 1884 Ernennung zum Domvikar.
Hermesdorff wuchs in einer Zeit kirchenmusikalischer Reformen auf, die in Trier etwa 1845 begannen. Während der Übergang von der Instrumentalmusik zur A-cappella-Musik, den Hermesdorff durch Kompositionen und Herausgabe von Motetten und Messen (siehe Werkverzeichnis) unterstützte, sich ohne Schwierigkeiten vollzog, entbrannte in Choralfragen ein heftiger Streit, der über fünfzig Jahre dauern sollte. Die Choraltradition des Bistums war äußerst unterschiedlich. In den Pfarrkirchen benutzte man die verschiedensten Choralfassungen und Ausgaben. Nur in der Domkirche, in der man aus alten handgeschriebenen Folianten sang, pflegte man konstant den sogenannten "Trierischen” Choral, den Hermesdorff als Seminarist gründlich kennenlernte und dem er sein ganzes Interesse zuwandte.
Im Auftrag des Bischofs begann er 1859 in Cues mit der Herausgabe handlicher Chorbücher des Trierer Chorals. In Trier (Dombibliothek und Stadtbibliothek) und Cues (Bibliothek des Nikolaus von Cues) standen ihm viele wertvolle Choralhandschriften (zum größten Teil aus der Zeit vor dem 16. Jahrhundert) zur Verfügung. In unermüdlicher und gründlicher Arbeit gab er in knapp fünf Jahren Graduale, Praefationes und Antiphonale (über 1000 Seiten) in Druck. In Zweifelsfragen orientierte er sich an Lambillottes Facsimile-Ausgabe von 1851.
In der Vorbemerkung zum Graduale sowie in verschiedenen Briefen legt Hermesdorff seine Auffassung des Choralrhythmus dar, die im Grunde mensuralistisch, jedoch durch Notation und Vortragsregeln zum Äqualismus hin abgemildert ist. Der Satz aus dem Vorwort zu den “Präfationes”, “dass nach traditionellem Gebrauche die Tonstufe fa-sol in den Kadenzschlüssen als halbe gesungen wird", führte in der Diözese Trier zu einer Jahrzehnte lang üblichen willkürlichen Anwendung.
Drei Jahre arbeitete Hermesdorff an der “Harmonia cantus choralis", einer vierstimmigen Harmonisierung großer Teile der liturgischen Bücher für Orgel oder gemischten Chor (Satz: Note gegen Note; harmon. Mittel: Dur- und Molldreiklang mit Umkehrungen, hin und wieder ein Dominantseptakkord). In der gleichen Art sind auch "Missa pro defunctis”, "Zweite Vesper am hl. Fronleichnamsfeste”, “Lamentationes" und "Gesänge zur Prozession” gesetzt. (Requiem, Te Deum und Lamentationen werden hier und dort heute noch gesungen.)
Hermesdorffs Schriften dienen entweder praktisch-musikalischen Anliegen oder der Choraltheorie.
Hermesdorffs Tätigkeit galt bis 1871 ganz seinem Bistum Trier. Von 1872 an erstreckte sich sein Einfluss auf ganz Deutschland und darüber hinaus. Schon bei den Arbeiten am "Trierischen” Choral war er zu dem Resultat gekommen, dass Handschriften aus den verschiedensten Gegenden vor dem 16. Jahrhundert fast völlig übereinstimmen, dass es einen spezifisch “Trierischen” Choral nicht gibt, dass dieser vielmehr authentischer Gregorianischer Gesang ist, wie ihn alle älteren Codices enthalten. Lediglich die “germanische” Melodiefloskel (für die er noch keine Erklärung fand) erkannte er als Eigenheit norddeutscher Diözesen (Trier, Köln, Mainz, Münster, Hildesheim). Als sich 1869, ausgelöst durch die Vorbereitungen zum Druck der Regensburger Ausgabe, der Meinungsstreit um den ursprünglichen Choral auf ganz Europa ausdehnte, konnte Hermesdorff, bestärkt durch seine Forschungsergebnisse, maßgebend gegen die "Medicaea” eintreten.
Um gründliche Arbeit und eine Zusammenfassung aller Kräfte zu ermöglichen, bat er R. Schlecht (Eichstätt) u. a. bei der vergleichenden Choralforschung mitzuwirken. Schlechts Vorschlag, die Form “Verein zur Erforschung alter Choralhandschriften” zu wählen, akzeptierte er und übernahm den Vorsitz. Die "Cäcilia” wurde Vereinsorgan. Die “Choralbeilagen für die Mitglieder des Choralvereins” dienten zur Veröffentlichung des eingegangenen Vergleichsmaterials und der Behandlung choralwissenschaftlicher Fragen.
Die Anmeldungen und das Vergleichsmaterial der Mitglieder waren und blieben jedoch (obwohl Gevaert, A. Schubiger, Dom Pothier, E. de Coussemaker und andere mehr dem Verein beigetreten waren) spärlich. Während Hermesdorff zunächst, im wesentlichen nur von R. Schlecht unterstützt, mit doppeltem Eifer an die Arbeit ging, stellten sich ihm allmählich Hindernisse entgegen, die er nicht mehr überwinden konnte. Der Kulturkampf traf ihn empfindlich; er musste zusätzliche Aufgaben übernehmen (Dom- und Bistumsrendantur, Seelsorghilfe in Pfarreien u. a. m.), die finanziellen Mittel wurden knapp; zudem ließ seine Gesundheit, die an sich schwach war (er litt an einer Verkrümmung der Wirbelsäule), mehr und mehr nach.
Trotz allem begann er 1876 mit der Herausgabe seines wichtigsten Vorhabens, des "Graduale ad normam cantus S. Gregorii” als Forschungsresultat des Choralvereins. In diesem Werk wollte er nur mehr die authentischen Melodien veröffentlichen; andere Fragen wie die des Rhythmus, der Notation und des Vortrages stellte er bewusst zurück. Das Werk enthält über den Choralnoten die ursprünglichen Neumenzeichen (für deren Druck er ein "Sparsystem” aus 17 zusammensetzbaren Typen entwarf und eigenhändig für den Guss in Bleikegel schnitt). 1878 konnte Hermesdorff die “Cäcilia” nicht mehr halten. Böckelers “Gregoriusblatt" trat an ihre Stelle.
Die Lieferungen des Graduale folgten in immer größeren Abständen, und mit der XI. Lieferung (bis Alleluja vom 4. Sonntag nach Ostern), 1882, blieb das Werk unvollendet. Beim Internationalen Kongress für liturgischen Gesang in Arezzo (1882) fehlten alle namhaften Mitglieder des Choralvereins (Hermesdorff, obwohl er deutscher Vertreter in der vorbereitenden wissenschaftlichen Kommission war, aus gesundheitlichen Gründen). Trotzdem war Hermesdorff davon überzeugt, dass seine Mühen sich gelohnt hätten, und er glaubte, auch in seiner Diözese die Verantwortlichen für den authentischen Choral gewonnen zu haben. Von einer schweren Krankheit Anfang 1884 erholte er sich nicht mehr (führte aber trotzdem die “Choralbeilagen” bis zu seinem Tode weiter). Erst zwanzig Jahre nach seinem Tode erschien die erste vatikanische Ausgabe; in seiner Diözese wurde noch 1888 die "Medicaea” eingeführt.Hermesdorff hat in deutschen Landen die Choralforschung am weitesten vorgetrieben und ohne Zweifel wesentliches zur Choralreform beigetragen. Seine Arbeiten in Ruhe vorzunehmen und zu vollenden, versagten ihm die Wirrnisse seiner Zeit. Ein anderer führte sein Werk zu Ende: Peter Wagner, der 1876 bis 1885 sein Schüler war und in einem Brief (v. 30. 5. 1886) an die Verwandten Hermesdorffs schreibt: “ ... Habe ich doch alles, was ich in musikalischen Dingen mein Eigen nennen kann, ich meine nicht nur Kenntnisse, sondern auch Bücher etc. Ihnen zu verdanken. Ihr seliger Onkel, der mich immer vor seinen übrigen Schülern bevorzugte, hat das Fundament zu meiner musikalischen Bildung gelegt.”, “0 daß er noch das Glück haben würde, dem Leichenzuge des Regensburger Chorales zuzusehen!” (Brief v.13. Mai 1886).
Hans Lonnendonker
Literatur:
"Michael Hermesdorff und der Trierische Choral”, (Jahresarbeit des Seminaristen) Dom. Johnen, ungedruckt, Trier, 1942; "Beitrag zur Musikgeschichte der Diözese Trier", v. P. Bohn, ungedr., Trier (Stadtbibl.); "Cäcilia” Organ für kath. Kirchenmusik (Trier), Jg. 1872 bis 1878; "Choralbeilagen für die Mitglieder des Choralvereins" 1872 bis 1878 (zur “Cäcilia"), 1879 bis 1884 (zum "Gregoriusblatt”); Hermesdorffs Werke.
Quellen:
Briefe von Hermesdorff an R. Schlecht (Diözesanarchiv Eichstätt/Bayern); Briefe an verschiedene Adressaten (Archiv d. Erzabtei Beuron/Donau); Verschiedene Briefe u. Dokumente (i. Besitz d. Herrn A. Gracher, Trier, Hauptmarkt). Gustav Bereths: Beiträge zur Geschichte der Trierer Dommusik. Mainz 1974