Dr. Wolfgang Hoffmann, Weiskirchen, beschreibt 2001 den Zeitraum von 1893 bis 1969. Mit kleinem Ausblick auf die Ära Schneck/Fischbach
Bekanntlich gerät mit der Erstaufführung von Bachs Matthäuspassion am 11. März 1829 in Berlin unter der Leitung von Felix Mendelssohn-Bartholdy die Bach-Rezeption allgemein in Bewegung.(1) Mit diesem Monumentalwerk wurde diese auch in Trier (Casinosaal) am 27. März 1893 eingeleitet. Verantwortlich zeichnete der Trierer Musikverein zusammen mit der Trierer Liedertafel, den Knaben des Domchores und dem Orchester des 29. und 69. Infanterie-Regiments unter dem Dirigenten Josef Lomba.(2)
Nach der Statistik weiterer vokaler und instrumentaler Bach-Aufführungen im außerliturgischen Raum (siehe unten "Aufführungen") läuft die Bach-Rezeption in Trier zäh an.(3) Dabei bildet die Matthäuspassion den "roten Faden". Ab den 20er und vor allem in den 50er Jahren wird dieses Monumentalwerk Bachs zum Schlüsselwerk. Die beiden großen Musikfeste 1900 und 1925 mit Bachs Pfingstkantate O ewiges Feuer - ebenfalls in groß angelegter Besetzung (4) - hinterließen keine wesentlichen Spuren der Bach-Rezeption. Neun Kantaten Bachs gelangen erst in den 20er Jahren zur Aufführung, sodann lediglich 1931 wiederholt die Kreuzstab-Kantate. Das Weihnachtsoratorium erklingt in Teilen erstmals 1907 und dann erst wiederum 1960. Die Johannes-Passion wird erstmals 1910 und dann erst wieder 1962 und 1967 aufgeführt. Erst in den 20er Jahren werden auch reine Instrumentalwerke Bachs in die Konzertprogramme in Trier aufgenommen - mit den Brandenburgischen Konzerten und Violinkonzert E-Dur (BWV 1042) an der Spitze.
Im liturgischen Raum (Dom) taucht im ganzen 19. Jahrhundert der Name Bach in den Aufführungsverzeichnissen des Domchores an keiner Stelle auf. Auch die Domorganisten des 19. Jahrhunders lassen Bach außen vor. (5)
Domorganist Jodoc Kehrer (1855-1937) - Initiator der Bach-Rezeption in Trier
Erst mit Domorganist Jodoc Kehrer hält am Beginn des 20. Jahrhunderts das Bach-Spiel auch im Trierer Dom Einzug.
Kehrer wird am 22. August 1855 in Cochem geboren. (6) Er absolvierte die Regensburger Kirchenmusikschule (25. Kurs 1899) mit Michael Haller (Komposition), Franz Xaber Haberl (Gregorianischer Choral) und Joseph Hanisch (Orgel) als seine wichtigsten Lehrer. (7) Von 1901 an wirkt Kehrer als Organist an der Trierer Liebfrauenkirche. Am 1. April 1904 wird er in der Nachfolge Heinrich Paulis (*1865) (8) Domorganist mit gleichzeitigem Lehrauftrag für Orgel an der dortigen Kirchenmusikschule. 1905 wird er in den Diözesan-Cäcilienverein berufen, dessen Vorsitz der damalige Domkapellmeister Wilhelm Stockhausen (1872-1951) innehatte. Kehrer übt das Amt des Domorganisten bis Juli 1911 mit hoher Wertschätzung aus. (9) Danach lebt er in Cochem und Koblenz, wo er 82-jährig am 28. Oktober 1937 stirbt. Seine letzte Ruhe findet er auf dem Friedhof seiner Heimatgemeinde Cochem.
Jodoc Kehrer ist er erste, der sich in Trier für Johann Sebastian Bach pädagogisch und künstlerisch-praktisch einsetzte. Darüber hinaus hat er sich intensiv theoretisch mit Bach auseinandergesetzt. Davon zeugt seine Schrift Johann Sebastian Bach als Orgelkomponist und seine Bedeutung für den katholischen Organisten (1920). (10)
Seinen Orgelschülern an der Kirchenmusikschule vermittelt er die Bach'sche Orgelmusik sowie den Bach-Geist allgemein. Diese studieren sowohl technisch als auch interpretatorisch unter seiner Anleitung Orgelwerke Bachs. Damit finden diese auch über Trier hinaus in den katholischen Gotteshäusern des gesamten Bistums Verbreitung.
Ernstes Bach-Studium schafft nach Kehrer musikalischen Tiefgang und regt die Phantasie des Organisten an: "Erlahmt die geistige Regsamkeit, stellen sich rhythmische, harmonische oder melodische Gleichmäßigkeiten ein, so greife immer wieder zu Bach, und an seiner grenzenlosen Erfindungsgabe, seinem unerschöpflichen Kombinations-, Formen- und Ausdrucksreichtum, seiner abgrundischen Innerlichkeit stärke, erbaue und erhebe dich!" (11)
Auch katholische Organisten kommen seiner Meinung nach an Bach, insbesondere an seinen Choralvorspielen, (12) nicht vorbei. Gerade in diesen kann man das Wort-Ton-Verhältnis bei Bach sehr gut studieren und auf das eigene Orgelspiel durch "Vermeiden banaler Harmonien" anwenden. (13)
Des weiteren favorisiert Kehrer kontrapunktisch-transparentes Orgelspiel, wie es sich in vollendeter Weise in den Orgelsonaten Bachs zeigt. Diese bieten "dem Organisten köstliches Studienmaterial, sowohl für die Erreichung einer fertigen Spieltechnik als für das Einleben in die streng thematisch dreistimmige Setzweise... Sie regen an zu Übungen in der triomäßigen Improvisation, die der reifere Künstler ... pflegen möge". (14) Des weiteren kommt dieses Postulat in seiner Broschüre Die Kunst des Präludierens, eine systematisch Anleitung zum freien Orgelspiel (1916) zum Tragen. (15) Darin betrachtet er das "Studium der Werke Bachs" für jeden "tüchtigen Organisten" ... "als ein Stück Lebensaufgabe".(16) Transparentes Orgelspiel bekundet ferner sein Kanon in der Oktav für Oberstimmen und Pedal mit zwei Füllstimmen (1908), ein Typ, den Bach beispielsweise im Choralvorspiel O Lamm Gottes unschuldig aus dem Orgelbüchlein anwendet; des weiteren zeugt davon sein op. 9 Kurze leichte Orgeltrios als Vorspiele zu beliebten deutschen Kirchenliedern. Im dortigen Vorwort führt er aus: "Die einseitige Vorliebe für starke, massige Klangwirkungen, wie sie bei uns zu Lande im Allgemeinen herrscht, und die damit in der Regel verbundene Verständnislosigkeit für die vornehmere durchsichtige polyphone Spielweise, erinnern immer an das Wort Robert Schumanns: 'Die Masse will Massen'... Nun gibt es aber unter den Organisten auch manche, denen die Polyphonie nicht recht liegt, sei es, dass dieses Gebiet bei ihrem Studium zu wenig Berücksichtigung fand, sei es aus sonstwelchen Gründen .... Wie dem auch sei, jedenfalls ist es Tatsache, das jener vornehme mit nur wenigen Registern aus zuführende dreistimmige Satz, den wir als Orgeltrio bezeichnen .... in der Praxis fast ganz vernachlässigt ist." Auch in seiner akribischen Analyse der Bach'schen Canzona d-Moll untermauert Kehrer diese Forderung. (17)
Folgerichtig führt einseitiges Studium des Palestrina-Satzstils bei angehenden Organisten zu musikalischer Verengung. "Im übrigen muss zugestanden werden, dass die Gewöhnung an deren rein vokale und rein kontrapunktische Satzweise mit ihrer streng gemessenen diatonischen Melodik der Einzelstimmen, mit ihren sehr beschränkten Zusammenklängen, und die Unkenntnis des viel ausgedehnteren, freieren, echt orgelmäßigen, kontrapunktisch-harmonischen Systems Bachs doch ein gewisses Hemmnis für die Entwicklung eines ausgeprägten schönen Orgelsatzes bilden. Das Spiel klebt, auch wo es sich freier entfalten darf und soll, zu leicht am Vokalen und Diatonischen und entbehrt des figurativen Elements". (18)
Der Bach-Enthusiast Kehrer trat selbst als Bach-Spieler in Liturgie und Konzert mehrmals in Trier an die Öffentlichkeit, wobei zwei Daten gesichert vorliegen. 1901 erregt sein Orgelspiel während der 9. Generalversammlung des Cäcilien-Vereins in Trier Aufsehen. Der Rezensent lobt Kehrers "geschmack- und stilvolles Orgelspiel, das bei den Solo-Stücken (Fantasie von J.S. Bach und Präludium und Fuge von G.F.Händel) die meisterhafte Behandlung des königlichen Instruments recht erkennen ließ, während bei den Begleitungen der Choralstücke der Orgelspieler in lobenswerter Weise sich unterzuordnen verstand". (19) Am 22. Oktober 1908 gab er anlässlich einer weiteren Veranstaltung des Cäcilienvereins ein Orgelkonzert im Dom mit Werken von J.S. Bach, Händel, Brosig, Merkel und sein eigenes Opus Kanon in der Oktav. (20)
Während die Orgelmusik in ihrer Überkonfessionalität weniger Angriffsfläche von Seiten der Cäcilianer bot, unterlag die kirchliche Vokalmusik als vorrangige Musizierform im Gottesdienst strengerer cäcilianischer Zensur. (21) Wie steht Kehrer zu dieser geistlichen Vokalmusik Bachs? Für den aus der cäcilianischen Regensburger Schule kommenden Kehrer ist das Studium des Palestrina-Satzes unabdingbare Grundlage. Auch seine eigenen Chorwerke atmen neopalestrinensischen Geist. (22) Einerseits zeigt sich im "reinen a-cappella-Satz des 16. Jahrhunderts" der kirchliche Vokalstil schlechthin, da er "die zartesten Rücksichten auf das Vermögen der menschlichen Stimme" nimmt (23), andererseits aber strebt Kehrer auch diesbezüglich die Öffnung in den freien polyphonen Satz an und befürwortet den Bach'schen Kontrapunkt und dabei implizit die andersartige "freiere Melodiebildung" und Harmonik. (24)
Von daher spricht sich Kehrer - wenn auch im Vergleich zur Orgelmusik eingeschränkt - für die Rezeption der geistlichen Chorwerke Bachs aus, die seinerzeit Domkapellmeister Wilhelm Stockhausen noch gänzlich aus dem Repertoire des Domchores ausschloss. Im von Stockhausen sogenannten "sekundären liturgischen Eigenbereich" (25) (Andachten), in dem durchaus auch deutschsprachige Gesänge erlaubt waren, wäre die Aufführung zumindest eines Bach-Chorals möglich gewesen.
Besonders schätzt Kehrer die Motetten sowie und vor allem die vierstimmigen Choräle Bachs, in denen Vielheit zur Einheit gelangt. Einerseits herrscht eine "musikalische Stimmung", die "dem Text im allgemeinen" entspricht, andererseits kommen "in der wunderbar geschmeidigen Stimmführung bzw. den sich ergebenden Harmonien tiefe Empfindungen zum Ausdruck, die einzelne Textstellen im Autor wachriefen". (26)
Der Protestant Bach war auf Grund echten Künstlertums und Christseins für den Katholiken Kehrer kein Hindernis, in den katholischen Gottesdienst integriert zu werden: "Noch eins! Bach war nicht unseres Glaubens, aber in dem, was die beiden Konfessionen einen soll, dem festen Christus-Bekenntnis, in der kernhaften Frömmigkeit und praktischen Betätigung christlicher Gesinnung, nicht zum wenigsten auch in der idealen Auffassung und Ausübung seines Berufs: Mit einem Wort, als echt christlicher Künstler kann er auch den katholischen Organisten als Vorbild dienen". (27)
Schluss mit Überblick bis in die Gegenwart
Jodoc Kehrer erweist sich in seinem Bach-Bekenntnis als kosmopolitischer Künstlergeist, der katholisch-ultramontane Engstirnigkeit ablehnt. Kehrer geht somit auch - wie zeitgleich Joseph Renner jun. in Regensburg (28) - über seinen Regensburger Orgellehrer Josef Hanisch hinaus, der Bach in Lehre und Aufführungspraxis noch ausschloss. (29)
Das Bach-Spiel im Trierer Dom gewinnt mit ihm zunehmend an Bedeutung: angefangen von dessen Nachfolger im Domorganistenamt Ludwig Boslet (1860-1951) aus der Rheinberger Schule in München über Paul Schuh (1910-1969) - dieser beherrschte rund 30 gewichtige Orgelwerke Bachs - bis zu Wolfgang Oehms (1932-1993) und dem jetzigen Domorganisten Josef Still (seit 1994). (30)
Kehrers Kollege Domkapellmeister Wilhelm Stockhausen öffnete einerseits cäcilianische Fesseln in Trier, indem er 1911 die Sigismund-Messe des Neoromantikers Peter Griesbacher aufführte und von da an die Trierer Domliturgie mit "Altem" und "Neuem" bereicherte (31), andererseits schloss er Bach im Repertoire des Domchores noch gänzlich aus. Erst unter seinem Nachfolger Johannes Klassen (1904-1957) tauchen einige Choräle Bachs im Repertoire auf.
Paul Schuh übernimmt als Domkapellmeister das vokale Bach-Repertoire Klassens. Unter Domkapellmeister Rudolf Heinemann (*1934) wird das Bach-Repertoire um die Kantate 29 Wir danken Dir sowie das Magnificat - erstmals am 27.12.1969 aufgeführt - erweitert. Teile daraus wurden von Heinemann auch in Gottesdiensten (Vesper) aufgeführt.
Unter Domkapellmeister Klaus Fischbach (*1935) kommen die Motetten Bachs - erstmals im Rahmen eines Konzerts 1989 in Trier St. Gangolf aufgeführt -, die Kantate BWV 140 Wachet auf sowie die Choralmotette BWV 28 So lob mein Seel den Herrn hinzu. (32)
Bemerkenswerter Weise setzt vergleichend in der evangelischen Konstantin-Basilika erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit KMD Ekkehard Schneck (1966-1999 im Amt) die ernsthafte praktische Auseinandersetzung mit Bachs Musik ein. Vorher erklangen im Gottesdienst der Basilika lediglich Bach'sche Choräle. Mit seinem 1969 gegründeten Bach-Chor führte Schneck mehrmals die großen Vokalwerke Bachs Johannes-Passion, Matthäus-Passion, h-Moll-Messe, Weihnachtsoratorium, Magnifikat, alle Motetten sowie zahlreiche Kantaten im Gottesdienst und Konzerten auf. (33)
Darüber hinaus tragen zur regen Bach-Pflege in Trier seit mehreren Jahren bis heute Spee-Chor, Universitätschor und Trierer Konzertchor bei.
Jodoc Kehrer stellt am Beginn des 20. Jahrhunderts die Weichen für diese skizzierte Bach-Rezeption in Trier. Wenngleich sich Kehrers Bach-Rezeption hauptsächlich und innovatorisch auf die Orgelmusik im Gottesdienst bezieht, hat er diese insgesamt (den außerliturgischen Raum eingeschlossen) in Trier zumindest angestoßen. Im übrigen hat seine Bach-Broschüre auch nicht vor den Trierer Bistumsgrenzen haltgemacht, so dass diese auch einen Mosaikstein der Bach-Rezeption allgemein darstellt (34).