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Zum Caecilianismus in Trier

Dr. Wolfgang Hoffmann

Ästhetische Grundlagen

"Das ächte Neue keimt nur aus dem Alten,
Vergangenheit muß unsere Zukunft gründen!
Mich soll die dumpfe Gegenwart nicht halten:
Euch, ew'ge Künstler, will ich mich verbinden."

Diese Verse von August Wilhelm Schlegel, zitiert in einem Aufsatz von Karl Schafhäutl Über die Kirchenmusik des katholischen Cultus 1834 in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1), fassen in aller Kürze die Maxime der gesamten Restaurationsbewegung des 19. Jahrhunderts, wie sie sich in Dichtung, bildender Kunst, Philosophie und Theologie sowie in der Musik zeigt, zusammen (2). Den Bereich Liturgie und Kirchenmusik betreffend, wird diese Erscheinung unter dem Terminus "Cäcilianismus" zusammengefasst (3). Mit der Rückorientierung auf das "Alte", auf die "Vergangenheit", auf die "ew'gen Künstler", wie Schlegel formuliert, ist, auf die Kirchenmusik bezogen, die Klassische Vokalpolyphonie mit Palestrina im Zentrum gemeint (4). Allenthalben wird Palestrinas Tonkunst überschwenglich gepriesen. So erschien im Jahre 1814 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung der bahnbrechende Artikel Alte und neue Kirchenmusik des Dichtermusikers Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776-1822), wo es heißt:  

"Mit Palestrina hub unstreitig die herrlichste 
Periode der Kirchenmusik (und also der Musik 
überhaupt) an, die sich beynahe zweyhundert Jahre 
bey immer zunehmendem Reichthum in ihrer frommen 
Würde und Kraft hielt, wiewol nicht zu läugnen ist, 
dass schon in dem ersten Jahrhundert nach Palestrina 
jene hohe, unnachahmliche Einfachheit und Würde, 
sich in einer gewissen Eleganz, um die sich die 
Meister bemühten, verlor" (5).

Zehn Jahre nach diesem Essay Hoffmanns in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung erschien die Streitschrift des Heidelberger Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut (1774-1840) Über Reinheit der Tonkunst (6), die als "unmittelbare Anregung...für die musikalische Restauration" angesehen wird (7). Für Thibaut ist die Musik "vernünftig und moralisch", die "mäßig, ernst, würdig gehalten, durchaus veredelt und leidenschaftslos" ist (8). Genau diese Attribute treffen für Palestrinas Musik zu, eine Musik, die die Mitte findet, Extreme in melodisch-rhythmischen und klanglichen Bereich meidet und dadurch Allgemeinverbindlichkeit, Universalität, ja echte Katholizität überhaupt in sich birgt. Dieser "wahren Kirchenmusik" - so der Prager Pianist Joseph Proksch (1794-1864) - als "der wärmste Erguß eines für den Himmel glühenden Gemüts" stehen die "vulgären, weichlichen, üppigen, Melodieführungen, Harmonieführungen und Kadenzen der modernen Kirchenkomponisten gegenüber" (9). 

Damit sind die Kirchenwerke der Wiener Klassik und deren Epigonen (Anton Diabelli, Robert Führer, Franz Bühler, Ludwig Schiedermayer, Karl Kempter, Franz Schöpf und andere) gemeint, die vor allem im Orchestersatz stark profane Züge aufweisen (10). Gerade der Orchestersatz, der den liturgischen Text verdeckt, "frivole Leichtfertigkeit und eitle Kokketerie" (11) erzeugt, ist Hauptangriffspunkt der Cäcilianer. Der bahnbrechende Reformer des Cäcilianismus im 19. Jahrhundert, Franz-Xaver Witt (1834-1888), der mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Cäcilienvereins 1868 in Bamberg (ACV) die bisherigen Ideen und Bemühungen für die liturgisch-kirchenmusikalische Erneuerung sozusagen institutionalisierte, spricht in diesem Zusammenhang von "sinnekitzelnder Musik" (12). Sie steht entschieden subjektorientiert den allgemeinverbindlich (objektiv) gehaltenen Kompositionen Palestrinas gegenüber, die sich durch "Ruhe und Einfachheit der Melodie, ....Strenge der Harmonik,....Natürlichkeit und Freiheit des Vortrags vor allem Sentimentalen und Forcierten" auszeichnen (13).

Grundlage der kirchenmusikalischen Reformbewegung des 19. Jahrhunderts war das Liturgieverständnis der Frühcäcilianer mit der zentralen Gestalt Johann Michael Sailer 1758-1832 (14). Für Sailers Verständnis von Kunst, speziell Tonkunst, ist seine akademische Rede Von dem Bunde der Religion mit der Kunst (1808), gehalten an der Universität Landshut, von grundlegender Bedeutung. Der Kernsatz dieser Rede lautet: "Die Religion steht mit der Kunst in einem Bunde, der nicht zufällig, nicht verabredet, sondern nothwendig, wesentlich, der nicht heut oder gestern entstanden, sondern ewig ist" (15). Für Sailer sind Kunst, die sich verschiedenartig als "Baukunst"..."Bildende Kunst"..."Poesie" und "Musik" äußert (16), damit auch Tonkunst und Liturgie untrennbar miteinander verbunden, und zwar "wesentlich", "notwendig" und "ewig". Ihr tieferer Sinn liegt darin, Religion nach "außen" in der Gemeinschaft der Kirche zu "offenbaren" (17) und religiöses Leben nach "innen" zu erhalten und zu wecken. "Die nämliche Musik, die die innere Andacht offenbart, erhält, stärkt und erhöht sie auch da, wo sie ist, sowie sie sie wecket da, wo sie noch nicht ist" (18). Somit ist für Sailer Tonkunst nicht Selbstzweck, sondern in ihrem ewigen Bund mit der Religion auf Gott hin gerichtet, mit dem Ziel, ihn transparent werden zu lassen.

Umgekehrt: Löst sich die Tonkunst von der Religion, das heißt von ihrem Ursprung, bzw. von der Liturgie als notwendiger Ausguss von Religion, so ist sie dem Verfall ausgesetzt und zeigt sich im schlimmsten Fall in "ihrer häßlichsten Entartung" (19) Dies ist dann der Fall, wenn sich Musik - ihrer Freiheit verlustig - sklavisch modernen Zeitströmungen anpaßt. So kritisieren die späteren Cäcilianer die Kirchenmusik der Wiener Klassik (Haydn, Mozart, Beethoven) in ihrer Anpassung an weltliche Gattungen (Oper, Konzert usw.). Sailer meint dies vermutlich auch, wenn er allgemein feststellt: 

"Ich weiß wohl, daß die schönen Künste unheilig 
geworden sind. Dieß ist aber kein Wunder, denn 
die schönen Künste sind des Menschen, sie müssen 
sich also von ihrem Ursprunge und von ihrem ange-
borenen Adel gerade so weit entfernt haben, als die                          
Menschheit selber ... die Menschen sind von der 
Idee der Kunst gerade so abgefallen, wie von der 
Idee der Religion" (20). 

Nur diese Werke besitzen Qualität von "heiliger Kunst", und hier zielt Sailer - sich auf Sokrates berufend -  auf die ethisch-erzieherische Wirkung von Musik ab -, "die uns lehret ... die Gedanken des Endlichen mit den Gedanken des Unendlichen ... in eine große und wundervolle Harmonie zu stimmen" (21). So gelangt der Mensch "vom Wahren, Guten, Seligen - Schönen, zum Urwahren, Urguten, Urseligen - Urschönen" (22).

Rezeption cäcilianischer Ästhetik in Trier - Johann Baptist Schneider (1806-1864) und Michael Hermesdorff (1833-1885)

Gerade diese Gedanken Sailers finden wir erstmals in Trier bei Dommusikdirektor Johann Baptist Schneider (zu Schneider s.u.) in dessen Beitrag Etwas über Musik, insbesondere Gesang (184o) (23), unter dem besonderen Aspekt der musikalischen Erziehung innerhalb und ausserhalb der Kirche (Haus, Schule, Leben). Im übrigen zitiert Schneider zweimal Thibauts Schrift Über die Reinheit der Tonkunst (24), des weiteren den italienischen Palestrina-Verehrer und Komponisten Ferdinand Paer (1771-1839) (25).

"Musik ist eine schöne Kunst - die Universalsprache 
für das Gemüth aller Nationen; sie wirkt unmittel-
barer und darum mächtiger auf das Innerste des 
Menschen als irgendeine andere Kunst. Gute Musik 
macht den Menschen gut und erzieht ihn für den 
Himmel; aber schlechte, die durch's reizende Gewand 
der Töne das Hässliche verherrlicht, macht ihn 
auch schlecht und entfernt von Gott" (26). 

Musik trägt "zur Veredelung" bei und "erzieht für den Himmel", nicht bloß in der Kirche, sondern auch in "Haus", "Schule" sowie im "Leben" überhaupt (27). Schneider moniert, dass die Musik in allen Lebensbereichen unter dem Einfluss der Opernmusik beziehungsweise der Profanmusik entartet sei, da sie "auf die Oberfläche des Fleisches geworfen ist", ... aufs "Eitle" abzielt und als "fades Geklimper... nach Effekt" strebt. Musik dagegen, die sich als "edle Kunst" begreift, "muß mit dem Himmel nahe verwandt sein" (28). Dies berührt sich wiederum mit dem, was Sailer als "Kunst im festlichen Kleide" bezeichnet, als "Tochter des Himmels", die nur dem "Heiligen" dient (29). Dies wollen Sailer und Schneider nicht nur auf die Liturgie, sondern auf alle Lebensbereiche angewandt wissen, wobei für beide die Offenbarung der Religion durch Tonkunst "das Heiligste" ist. Musizieren soll "zur Belebung edler Gefühle und zu sittlicher Erheiterung" beitragen (30). Schließlich ist Musik sowohl im kirchlichen als auch im weltlichen Bereich für Schneider ein "heiliges Band, das die Herzen ... vereint" (31). Deswegen empfiehlt er "schöne, edle Lieder, sittliche Rundgesänge" zu singen, die die Menschen in Liebe zueinander führen, wobei die "Himmlische Kunst" im Leben insgesamt zur "Förderung von Religiösität, Sittlichkeit, Menschenliebe und Humanität" beiträgt (32). 

Etwas über drei Jahrzehnte später greift der bedeutendste Kirchenmusikreformer in Trier, Michael Hermesdorff (zu Hermesdorff s. u.), allerdings auf die Kirchenmusik begrenzt, diese Gedanken in seiner Rede Über die hohe Bedeutung der kirchlichen Tonkunst, gehalten auf der dritten Diözesan-Generalversammlung in Saarburg, wieder auf (33).

Hermesdorff spricht von der "Macht", die die Tonkunst auf den Menschen ausübt, konkret auf sein "Herz", der Mitte des Menschen. Diese "Macht" der Musik auf das "menschliche Herz" kann "gefährlich" werden, wenn sie - wie "in dem Heidenthume...nur dem Sinnlich-Schönen nachstrebt und damit ganz in den Dienst des Unlautern verfallen war und Geist und Herz immer mehr von Gott hinweg - und in den Schlamm sittlicher Verkommenheit hineingezogen hatte". Dem musste sich das Christentum, die Kirche, entschieden widersetzen und 

"darauf Bedacht nehmen, die Kunst ihrer ursprüng-
lichen Idee und Bestimmung wieder zu geben, der 
gemäß als wahre Kunst nichts anderes ist, als die                            
sinnfällige Verkörperung der hohen Ideen des Guten, 
des Edlen, und Sittlich-Schönen, wie sie aus Gott 
selbst, dem Urgrunde alles Guten und Schönen hervor                          
leuchten, - dazu bestimmt, um das Unendliche in dem                          
Endlichen, das Überirdische und Unsichtbare in den                           
Formen der vergänglichen, sinnfälligen Materie zu 
direkter Anschauung zu bringen und so das Verständnis,
die Liebe und Begeisterung für alles Höhere, Über-
irdische und Göttliche immer mehr zu weken und zu beleben" (34).

Der in erster Linie praxisorientierte Kirchenmusiker Hermesdorff drückt in dieser Rede von 1873 das aus, was der Pastoraltheologe Sailer zu Beginn des Jahrhunderts kunstphilosophisch dargelegt hatte, was dann unmittelbar auch zum kirchenmusikalischen Reformwerk Carl Proskes, Joseph Schrems und schließlich Franz Xaver Witts in Regensburg geführt hat (35). Hermesdorff spricht von der "ursprünglichen Idee" der Tonkunst, Gott sichtbar werden zu lassen, "das Überirdische und Göttliche immer mehr zu wecken und zu beleben" (36) (Offenbaren und Beleben sind auch für Sailer, wie oben herausgestellt, Grundfunktionen von Liturgie und Kunst überhaupt) (37). Dies ist vom Ursprung her nur durch "jene erhabenen, edlen und begeisternden Gesänge, die nur im Chorale und den an den Choral sich anschließenden polyphonen Werken" möglich (38). Hermesdorff lehnt deswegen auch jede selbstzweckorientierte, die "nicht mehr im Dienste des Herrn" stehende Musik ab, eine Musik, die jeder Mode der Zeit folgt, ihre Wurzeln vergisst, ihren Ursprung, "ihre ursprüngliche Idee und Bestimmung" und "im Dienste ... der Sinnlichkeit" in dem "Schlamm niederer Leidenschaften" aufgesogen wird. Hermesdorff spricht in diesem Zusammenhang von den "Schandstücken eines Offenbach und Suppé (er meint sicherlich deren Operetten) und übt Kritik an den Wiener Klassikern Haydn, Mozart und Beethoven, deren Messen "nichts Anderes als Conzertstücke" sind, "in welchen die Musik nur um ihrer selbst willen da ist, darauf berechnet, zu blenden, zu fesseln und den Beifall des Zuhörers zu erringen" (39). Der Hauptangriffspunkt Hermesdorffs ist, wie in den cäcilianischen Kreisen allgemein, deren unbekümmerte Textbehandlung, sowie der Primat des Orchesters in Anlehnung an Instrumentalformen wie etwa "Symphonie" oder "Sonate" (40). Hermesdorff betrachtet, wie E.T.A. Hoffmann, die Entwicklung der Kirchenmusik als eine bis ins 16. Jahrhundert hinein ansteigende Linie mit Palestrina als Höhepunkt - Palestrina erwähnt er jedoch nicht expressis verbis -, worauf der unaufhaltsame Niedergang folgte. Dabei sieht er im Gegensatz zu den strengeren Cäcilianern die Vergangenheit durchaus großzügiger, wenn er dem "Unwesen profaner Musik in unseren Gotteshäusern" durch "den alten Glanz der mittelalterlichen Tonkunst und der kirchlichen Tonwerke des 16. und 17. Jahrhunderts" begegnen will (41).

Die wenigen ästhetischen Aussagen der Trierer Kirchenmusikreformer Johann Baptist Schneider und Michael Hermesdorff decken sich durchaus mit der cäcilianischen Ästhetik allgemein. Diese kommt extensiv auch in mehreren Beiträgen anderer Autoren (beispielsweise Otto Gumprecht) in der von Hermesdorff von 1872-1878 redigierten und von Heinrich Oberhoffer 1862 gegründeten Trierer kirchenmusikalischen Zeitschrift Cäcilia. Organ für katholische Kirchenmusik (42) zur Sprache.

Die Frage ist nun: Wie sah in Trier die kirchenmusikalische Reform praktisch aus?  Dabei steht vor allem die Frage nach der Aufführungs- sowie Bearbeitungspraxis der Werke klassischer Vokalpolyphonie mit Palestrina als deren Haupt im Mittelpunkt. Ergebnisse aus den Bereichen Gregorianischer Choral und Kirchenlied komplettieren und runden das Gesamtbild kirchenmusikalischer Reform in Trier ab.

Kirchenmusikalische Praxis

Wie in anderen kirchenmusikalischen Zentren Deutschlands, etwa Regensburg (43), Köln (44) und Aachen (45), erfuhr auch in Trier die Palestrina-Pflege noch bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein eine Unterbrechung, im Gegensatz etwa zu der Entwicklung in München und Rom (46). 

Die beiden ersten Dommusikdirektoren, Constantin Zimmermann (1742-1825) und Johann Jakob Fischer (1760-1838), pflegten ausschließlich die orchesterbegleitende Kirchenmusik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, darunter vor allem auch die Kirchenmusik der kurtrierischen Kapellmeister Pietro Pompejo Sales (1729-1797), Konrad Starck (um 1715-1787) und Johann Georg Lang (1724-1798) (47). Das Repertoire bezeugt durchaus, daß unter Zimmermann und Fischer keine seichten Werke aufgeführt wurden, sondern anspruchvolle Literatur der Wiener Klassik, sogar Mozarts Requiem KV 626, und die sechs späten Messen von Joseph Haydn, wenngleich die Qualität offenbar zu wünschen übrig ließ (48). 

Dieses künstlerische Defizit im Trierer Dom selbst, der zunehmende cäcilianistische Einfluss Süddeutschlands sowie die allgemeine Verschlechterung des kirchenmusikalischen Zustands auch im Bistum Trier - von Ausnahmen abgesehen (49) - führten auch in den vierziger Jahren in Trier zur allmählichen Wiederbelebung der a-cappella-Kunst des 16. Jahrhunderts. Den misslichen kirchenmusikalischen Zustand beschreibt der Nachfolger Johann Jakob Fischers, Dommusikdirektor Johann Baptist Schneider, in seinem obigen Aufsatz Etwas über Musik wie folgt: 

"Wie Luxus, leichte Sitten, Romanenleserey und 
Tanzwuth, selbst die weltliche Musik ihrer früheren 
Unschuld, Einfalt und Kraft entzogen haben, so 
scheint man sich selbst in der Kirche zu gefallen 
mit den Melodien aus der Oper und Organisten suchen 
zu ergötzen durch Walzer und Märsche .... Ausser 
dem Übelstande, dass in vielen Kirchen Melodien aus 
Opern gesungen werden, kann man an manchen Orten 
auch noch andere Melodien hören, die so fade und 
mitunter so Marsch- und Tanzmusik ähnlich sind, dass 
sie höchstens für eine Drehorgel, als Melodien zu 
Gassenliedern passen, aber in der Kirche gesungen, 
jagen sie alle, die da beten wollen, zum Tempel 
hinaus" (50).

Johann Baptist Schneider wurde 1806 in Trier geboren; empfing 1831 in Trier die Priesterweihe. Nach Kaplansjahren in Ehrenbreitstein und Bad Kreuznach war er Pfarrer in Stromberg, schliesslich ab dem 1. Mai 1838 Vikar am Dom und seit dem 11. Mai 1838 Dommusikdirektor. Seitdem war er mit der Leitung der Dommusikschule und der Dommusik betraut. Schneider blieb nur sechs Jahre in diesem Amt und übernahm danach die Pfarrei in Perl und Merl, wo er 1864 starb (51).
Überblickt man das unter Schneiders Leitung aufgeführte Repertoire, so fällt auf, dass die orchesterbegleitete Kirchenmusik des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wie bei seinen Vorgängern Constantin Zimmermann und Johann Jakob Fischer überwiegt (52). 

Daneben sind erstmals folgende Werke von Palestrina im Repertoire Schneiders nachweisbar: 

- Tu es Petrus
- Haec dies
- Lamentatio
- Tantum ergo
- Missa "Lauda Sion"
- Missa "Papae Marcelli"

Im Bistumsarchiv Trier (=BAT) Abt. 104 ff befinden sich folgende handschriftlichen Palestrina-Werke, die der Ära Schneider zuzuordnen sind.

- Missa "Lauda Sion" (BAT 156-16):
Chorparitur mit Orgelsatz, und Orgel gesondert

- Haec Dies (unter derselben Nummer):
Chorpartitur mit Orgelsatz, und Orgel gesondert

- Missa "Papae Marcelli" (BAT 156-02):
Chorpartitur mit Orgelsatz, und Orgel gesondert in jonisch C und jonisch B mit der Namensunterzeichnung "Schröder" (53) am Ende.

- Tu es Petrus (BAT 156-69):
Chorpartitur mit Orgel, und Orgel gesondert, in mixolydisch F und mixolydisch G.

- Veni sponsa Christi (BAT 156-72):
Nur Chorpartitur in mixolydisch G (54)

Was in dieser Handschrift auffällt, sind zusätzlich Akzidentieneintragungen über einigen Noten mit roter Tinte. Eine Ausführung nach dieser Akzidentiensetzung (= Vorzeichen) verfremdet den kirchentonalen Charakter völlig. Diese freizügige Akzidentienbehandlung zeugt von einer zwiespältigen Aufführungspraxis in Trier zur damaligen Zeit. 

Alle Abschriften haben moderne Schlüsselung und enthalten weder  Dynamik- noch Tempoangaben. Der Orgelsatz deckt sich weitgehend mit dem Chorsatz. Unter Schneider wurden, wie die Orgelstimmen belegen, Palestrina-Werke mit Orgel aufgeführt, nicht zuletzt, um den 20 bis 30 Sänger zählenden Domchor im Klangvolumen zu verstärken (55). 

Fest steht, dass mit Johann Baptist Schneider die kirchenmusikalische Reform in Trier einsetzt. Er kritisiert an den Kirchenwerken der Wiener Klassik vor allem die "Instrumentalbegleitung" (56). Andererseits folgt er auch Thibaut, der nicht alle Werke Palestrinas für geeignet hält, wenn er sagt: "Alles loben, weil es alt und von tüchtigen Meistern ist, ist Schwäche und Einseitigkeit " (57).

In dieses musikalisch weitherzige Gesamtbild Schneiders passt auch, dass er sich gegenüber deutschsprachigen Gesängen im Gottesdienst durchaus offen zeigt. Er komponierte neben deutschen Liedern eine Deutsche Singmesse (58). Des weiteren sind von ihm separate Vertonungen des Ehrenbreitsteiner Gesangbuchs erschienen (59), dem am weitesten verbreiteten Gesang- und Gebetbuch vor Erscheinen des Diözesan Gesang- und Gebetbuch (1846), an dem Schneider - zusammen mit Stephan Lück und anderern - tatkräftig mitarbeitete (60). Dieses Diözesan Gesang- und Gebetbuch hat für den Rückgriff auf das ältere deutschsprachige Kirchenlied "für die kirchenmusikalische Restauration im Trierischen ein Signal gesetzt" (61).

Dass die instrumental begleitete Kirchenmusik unter Schneider zumindest zurückgedrängt wurde, belegt ein Rezensent der Trierischen Zeitung vom 11.1.1845, als bereits Schneiders Nachfolger Johann Adam Dommermuth im Amt war: 

"Mit Genugtuung merkt man überhaupt, dass die seit 
einiger Zeit verdrängte Figuralmusik und die vorhandenen         
herrlichen Meisterwerke derselben seit der Direction 
des aus Coblenz hierher gezogenen Herrn Dommermuth bei                       
feierlichen Gottesdienstübungen wieder etwas in Aufnahme 
kamen und mehr und mehr zur religiösen Erbauung 
beitragen, als der schleppende monotone Choralgesang,                        
welcher gewöhnlich unvollkommen aufgeführt, dem Gottes-
dienst weder einen würdigen Charakter verleiht, noch 
eine feierliche Erhebung des Gemütes bewirkt" (62).

Wahrscheinlich ist es derselbe Kritiker, der im Trier'schen Intelligenzblatt 1847 unter der Überschrift Zwanglose Bemerkungen über Kirchenmusik und Gesang folgendes schreibt: 

"Wer seit Jahren daran gewohnt ist, an festlichen 
Tagen der feierlichen Hochmesse in unserm Dome 
beizuwohnen, wird es wissen, dass binnen einem 
Triennium ein anderer Geist, ein besseres 
Bestreben und ein bedeutender, jedem in die Auge 
fallender Fortschritt in der Kirchenmusik unserer 
hohen Domkirche sich Bahn gebrochen hat. Wir haben 
dies einzig dem Talent und dem regen Streben des 
jetzigen, um die Kirchenmusik so verdienstvollen 
Musikdirector Herrn Dommermuth zu danken" (63).

Johann Adam Dommermuth wurde am 15. Oktober 1812 in Güls bei Koblenz geboren. Er empfing am 25.3.1837 in Trier die Priesterweihe und war anschließend Kaplan in Koblenz (Liebfrauen). Am 31.10.1844 wurde er in der Nachfolge Schneiders Dommusikdirektor. Er bekleidete dieses Amt bis zum 26.1.1848 und wirkte danach als Pfarrer in Leutesdorf am Rhein, wo er am 24.8.1869 starb (64). Dommermuth lieferte ebenfalls für die Herausgabe des ersten Diözesangesangbuches wertvolle Beiträge. Seine Mitarbeit an der Herausgabe dieses Gesangbuches ist unumstritten (65).

Offenbar führte Dommermuth die kirchenmusikalische Reform auf dem Gebiet der mehrstimmigen Musik, die Johann Baptist Schneider in Gang gesetzt hatte, nicht zielstrebig fort, was in der allgemeinen Bevölkerung offensichtlich nicht als Mangel betrachtet wurde. Allerdings wird im Jahresbericht 1845/46 die Palestrina-Messe "Aeterna Christi Munera" in der Bearbeitung von Caspar Ett erwähnt, die an Christi-Himmelfahrt unter seiner Leitung aufgeführt wurde (66).

Den definitiven Durchbruch der kirchenmusikalischen Reform in Trier schaffte Stephan Lück, der am 27.01.1848 mit der Leitung der Dommusik und der Dommusikschule beauftragt wurde.

Stephan Lück wurde am 9.1.18o6 in Linz (Rhein) geboren. Am 20.9.1828 empfing er in Trier die Priesterweihe. Anschließend wirkte er als Kaplan in Bad Kreuznach und Pfarrer von Waldalgesheim. 1835 wurde er Professor für Moraltheologie am Priesterseminar in Trier und Dozent für Kirchenmusik ebendort. Seit dem 27.1.1848 wurde Lück mit der Leitung der Dommusikschule sowie der Dommusik betraut und zum Dommusikdirektor ernannt. Dieses Amt übte er bis Ende Juni 1853 aus. 1849 wurde er vom damaligen Bischof Wilhelm Arnoldi zum Domkapitular ernannt. Er starb am 4.11.1883 in Trier (67).

Stephan Lück zeichnete ab dem 2o.3.1844 auch verantwortlich für den musikalischen Teil des Diözesan Gesang- und Gebetbuchs (1846), in dem gemäß dem cäcilianischen Anliegen älteres deutsches Kirchenliedgut wieder Aufnahme fand (68). In Choralfragen war Lück ein strenger Verfechter liturgisch-musikalischer Gleichschaltung mit der Römischen Kirche. Dies geht aus einem an Bischof Arnoldi gerichteten Memorandum Lücks aus dem Jahre 1863 hervor - er war damals Domkapitular - was sicherlich als Reaktion auf das neu, sozusagen über Nacht eingeführte Graduale iuxta usum Ecclesiae Cathedralis Trevirensis dispositum (erschienen Frühjahr 1863) des damaligen Domorganisten Michael Hermesdorff zu verstehen ist (69).

Lücks grösste Arbeitsleistung allerdings liegt im Sichten altklassischer Vokalmusik, begonnen bereits Anfang der vierziger Jahre in verschiedenen Archiven des In- und Auslandes. Diese Fleißarbeit fand in seiner Sammlung ausgezeichneter Compositionen für die Kirche (1859) ihren krönenden Abschluß (70). Diese Sammlung besteht aus zwei Bänden. Band 1 enthält 16 Messen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts, von Palestrina lediglich die Missa Papae Marcelli. Band 2 enthält 80 Motetten des gleichen Zeitraumes, wobei Palestrina achtmal vertreten ist:

- Haec Dies
- Loquebantur variis linguis
- 0 salutaris hostia
- 0 bone Jesu
- Tu es Petrus
- Veni sponsa Christi
- Magnificat (8. Ton)
- Alma redemptoris mater

Die Lücksche Sammlung ist vorrangig praxisorientiert im Gegensatz zur historisierend-wissenschaftlich ausgerichteten Sammlung des Regensburger Cäcilianers Carl Proske (71). Diese Praxisorientierung Lücks belegen temporale sowie dynamische Angaben, Akzentzeichen, moderne Schlüsselung und Notation, sowie die Übersetzung ins Deutsche. Akzidentien stehen direkt vor der jeweiligen Note. Stephan Lück läßt durchaus Orgelbegleitung bei homophonen Stücken und bei Solopartien zu. So heißt es im Vorwort:

"Die meisten der hier mitgeteilten Compositionen 
werden nur dann zu ihrem vollen Ausdruck gelangen, 
wenn sie von einem kräftigen, wohl unterrichteten 
Chore ohne Orgelbegleitung gesungen werden; einige 
indessen, und zwar solche, in denen die Stimmen 
gleichmässig einherschreiten, wie die Messe Nr. 9 
und Nr. 14, vertragen die Begleitung der Orgel, 
und andere, wie die Messe Nr. 10, verlangen eine 
solche wegen der längeren Soloparthien."

Lück ist also, wie Schneider, kein puristischer a-cappella-Anhänger, wenngleich auf sein Drängen hin die orchesterbegleitete Kirchenmusik im Dom und in der gesamten Diözese Trier laut Beschluss des Domkapitels vom 19.3.1851 verboten wurde (72). Des weiteren deuten die Akzentzeichen, sowie die - wenn auch wenigen - Tempo- bzw. dynamischen Angaben in seiner Sammlung auf eine einschränkend-lebendige Palestrinainterpretation bzw. -wiedergabe. 

Dies soll noch anhand seiner Lehrschrift Theoretisch = praktische Anleitung zur Herstellung eines würdigen Kirchengesangs, Trier 1856, weiter untermauert werden. Unter "würdigem Kirchengesang" versteht Lück natürlicherweise die klassische Vokalpolyphonie mit Palestrina als Haupt der römischen Schule, wie sie sich in seiner Sammlung wiederspiegelt. Für Lück ist der "Ausdruck" bei der Wiedergabe beziehungsweise Interpretation gerade dieser Werke, in denen "Erhabenes, Göttliches," aufleuchtet, grundlegend wichtig (73). So ist bei ihm unter dem Kapitel "Wachsen und Abnehmen des Tones" folgendes zu lesen:

"Das Wirken der Natur ist ein ruhiges, stetiges. 
Wird sie in demselben aufgehalten, so sammelt sie 
wohl ihre Kräfte, um mit einem Stosse das wieder-
strebende Hindernis aus dem Wege zu räumen, kehrt 
dann aber zu ihrer früheren Wirkungsweise zurück. 
Allmählig kommen und verschwinden Tag und Nacht. 
Allmählig geht eine Jahreszeit in die andere über, 
und wohin wir auch unsere Blike werfen, überall 
sehen wir sanfte Übergänge. In der Seele herrscht 
das selbe Gesetz. Die Gefühle steigen und sinken 
allmälig, falls nicht ausserordentliches dazwischen-
tritt, und so sagt nichts so sehr dem im Gesange 
ausgeprägten Gefühle zu, als das allmälige Anschwel-
len und Verschwinden der Töne. Auf diesen Wellenfluss
sind die erhabensten kirchlichen Compositionen berech-
net, und sie können garnicht verstanden werden, wenn 
das Sängerpersonal sie nicht in solcher Weise vorzu-
tragen versteht. Die Töne müssen schwimmen und klingen.
Die alten Componisten bezeichnen das Anschwellen und
Abnehmen des Tones nicht, die neueren bezeichnen es
mitunter" (74).

Aus diesen Worten geht deutlich hervor, daß Lück eine in sich ausgewogene, ausgeglichene Interpretation dieser Werke begünstigt, gemäß der Musik Palestrinas selbst, die nach Thibaut - wie zu Beginn angeführt - "mäßig, ernst ... leidenschaftslos ist", eine Musik, die - so später Professor Birkler in der Trierer "Cäcilia" - "wuchernde Einzeltriebe" meidet (75).

Hinsichtlich der Artikulation beziehungsweise dem "Aneinanderreihen der Töne" lehnt Lück ein strenges monotones Legato ab; stattdessen favorisiert er ein leichtes Portato: "Gar schön und für den Kirchengesang geeignet, ist die Verbindung des Abstossens (= staccato) und Schleifens (= legato); die Töne liegen dann so enge aneinander und sind doch auch wieder so scharf voneinander geschieden, ähnlich den Perlen an einer Schnur." Praktisch geschieht dies, "indem wir die Tonreihe in einer Athemströmung vortragen, jedoch jedem Tone einen schwachen, kaum bemerkbaren Stoß geben" (76).

Gerade im Postulat einer ansprechenden Vortragsweise der Werke Palestrinas beziehungsweise der klassischen Vokalpolyphonie überhaupt belegt, dass Lück - wenngleich er einer expandiert-emphatischen Palestrina-Wiedergabe kritisch gegenüberstand - eine uniformierte, undifferenziert-einseitige Legatowiedergabe ablehnte. Aus dieser - so könnte man sagen - "Interpretation der Mitte" scheint sein späterer Nachfolger Hermesdorff auszubrechen (77).

Michael Hermesdorff wurde am 4.3.1833 in Trier geboren. Von seinem Bruder Matthias, der Organist an St. Gangolf in Trier war, wurde er in Theorie, Klavier und Orgel unterwiesen. Von 1852 bis 1855 war er als Organist und Gesanglehrer an den Primar- und Höheren Schulen in Ettelbrück (Luxemburg) tätig. Nach dem Theologiestudium in Trier wurde er am 27.8.1859 zum Priester geweiht und wirkte anschließend als Kaplan in Kues und Bernkastel. 1862 wurde er als Nachfolger von Jakob Polch (78) zum Organisten an die Trierer Domkirche berufen. Ab dem 17.8.1874 leitete Hermesdorff mit der Ernennung zum Dommusikdirektor die Trierer Dommusik offiziell. 1868 gründete er als entschiedener Reformer den Diözesan-Cäcilienverein und 1872 den "Verein zu Erforschung alter Choralhandschriften", gleichzeitig richtete er 1872 einen "Catalog der Bibliothek des Zweig-Vereins des Allgemeinen Deutschen Cäcilien-Vereins für die Diözese Trier" ein, wodurch Kirchenmusikern geschichtliche und theoretische sowie praktische Musik der altklassischen Polyphonie und Werke der Cäcilianer zungänglich gemacht werden sollten. Darunter befinden sich zahlreiche Messen und Motetten von Palestrina, auch eine Litanei, die nicht in seiner erweiterten "Sammlung Lück" angeführt werden. Von 1872 bis 1878 war er Schriftleiter der Cäcilia, die 1862 von Heinrich Oberhoffer (79) gegründet worden war. Von 1875 bis 1885 war er ordentliches Mitglied der Gesellschaft für Musikforschung. Hermesdorff starb am 18.1.1885 in Trier (80).

Hermesdorff war des weiteren mitverantwortlich bei der Erstellung des neuen Gesang- und Gebetbuchs (1871) und besorgte die vierstimmige Ausgabe (1872) für vier Singstimmen und Orgel (81). Wie im Gesang- und Gebetbuch von 1846 nimmt der Anteil älteren Liedguts zu (82). Insbesondere fand unter dem Einfluß Hermesdorffs der "Trierische Choral" Einlaß. Darin sind das Asperges, Vidi aquam, fünf Choralmessen, das Te Deum und acht lateinische Segensgesänge in der Trierischen Choraltradition enthalten (83). Bemerkenswert ist, dass die deutschen Messen und Vespern aufgegeben wurden, an denen auffälligerweise nur Franz Xaver Witt keinen Anstoß nahm (84). 

Hermesdorffs größte Arbeitsleistung liegt zweifelsohne in der Choralforschung; durch strenge Untersuchungen mittelalterlicher Handschriften stellte er den echten Trierischen Choral wieder her; sein Graduale (1863), sein Antiphonale (1864) fanden im Dom zu Trier Einlass, wurden aber 1888 unter Philipp Jakob Lenz (s.u), der stark unter Regensburger Einfluss stand, zugunsten der Medicaea wieder abgeschafft (85). Andererseits bekundet Hermesdorff dadurch Offenheit, ja Freizügigkeit, daß er den ganzen Gregorianischen Choral 4-stimmig für Orgel bzw. gemischten Chor ausgesetzt hat. Als Resultat erschien daraufhin seine Harmonia Cantus Choralis (1865-68) in 6 Abteilungen nebst einem Supplementheft; des weiteren hat er das Choralrequiem für 4-stimmigen Männerchor bearbeitet (1871) (86).

Reformerische Strenge bezeugen dagegen seine eigenen Kompositionen in ihrer neopalestrinensischen Grundhaltung, wenngleich er im Vorwort zu seiner Missa in B (op. 1) aus dem Jahre 1863 von "neuen Bahnen" spricht, die in der gegenwärtigen Kompositionspraxis zu betreten seien. Dieser Reformgedanke in "neuen Bahnen" spiegelt sich insbesondere in seiner zweiten verbesserten und vermehrten Auflage der Sammlung ausgezeichneter Compositionen für die Kirche von Stephan Lück wieder (Bd. 1, 1884, enthält 9 Messen, Bd. 2, 1884, enthält ebenfalls 9 Messen, Bd. 3, 1885 enthält 44 Motetten). Es handelt sich um Werke des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Palestrina ist mit folgenden drei Messen vertreten:

- Missa "Aeterna Christi munera"
- Missa "Iste confessor"
- Missa "Papae Marcelli",

des weiteren mit folgenden fünf Motetten:

- Dies sanctificatus
- Exsultate Deo
- Haec Dies
- Loquebantur variis linguis
- O salutaris Hostia.

Nach dem Tode von Hermesdorff 1885 erschien noch ein 4. Band der Sammlung, ein Motettenband, herausgegeben von Heinrich Oberhoffer in der gleichen editorischen Form. Dieser enthält folgende Motetten Palestrinas:

- Alma redemptoris Mater
- Magnificat (VIII. Ton)
- O bone Jesu 
- Tu es Petrus
- Veni sponsa Christi.

In diesem Zusammenhang sei nochmals an den "Catalog der Bibliothek des Zweig-Vereins des Allgemeinen Deutschen Cäcilien-Vereins für die Diözese Trier" erinnert, durch den auf Betreiben Hermesdorffs weitere zahlreiche Messen und Motetten Palestrinas der kirchenmusikalischen Praxis zugänglich gemacht wurden.

Diese verbesserte und vermehrte Sammlung von Hermesdorff liefert gleichsam ein Bild von dessen Interpretationsverständnis bzw. Aufführungspraxis der Werke Palestrinas. Die Palette der Ausdrucksvorschriften wird im Vergleich zur "Lück-Sammlung" in Tempo und Vortragsangaben (Dynamik, Crescendo, Decrescendo, Akzentzeichen) erheblich erweitert. Hinzu kommen Deklamationszäsuren und genaue Metronomangaben. Ein Orgelauszug fehlt, da er "für die Sänger störend sein könnte". Trotz subjektiver Zugeständnisse in Bezug auf die Aufführungspraxis - akustische Verhältnisse, Chorstärke usw. - meint Hermesdorff, dass "bei genauer Befolgung der hier gegebenen Anleitung die Darstellung dieser Tonwerke den Intentionen des Komponisten entsprechen wird" (87).

Vergleichen wir das Christe eleison der Missa Papae Marcelli der Hermesdorffschen Ausgabe mit dem Christe eleison der Lückschen Ausgabe. Während Lück lediglich beim "Christe" allgemein Piano vorschlägt und dem Interpreten innerhalb des Satzes interpretatorische Freiheit läßt, schreibt Hermesdorff im Sinne einer dynamischen Steigerung Piano (Takt 25), Mezzoforte (T. 32, 33), Forte (im Höhepunkt T. 35) vor, um dann wieder im Decrescendo Piano zu erreichen mit Mezzoforte-Hebung am Ende. Hinzu treten Unterschiede in der  Textdeklamation, deren Behandlung in der Praxis des 16. Jahrhunderts bei Stücken mit Textwiederholungen (wie z.B. beim Kyrie) den Sängern freigestellt war (88). Die Deklamationszäsuren bei Hermesdorff verleiten zu zerstückelt-kleingliedriger Gestaltung, dies im Gegensatz zur freiströmenden Lück'schen Liniengestaltung (89). Vor allem in den Gloria und Credo neigt Hermesdorff zu übertriebenen Schattierungen bzw. Kontrasten in Dynamik und Tempo auf engstem Raum. Hermesdorffs Palestrina-Edition und Interpretation ist im Vergleich zu der Interpretation Lücks noch mehr auf Facettenreichtum bzw. Differenzierung in Tempo und Dynamik ausgerichtet. In diese freizügig-stark subjektivistische Palestrina-Interpretation bei Hermesdorff paßt auch die Tatsache, daß er als einziger in Trier Werke Palestrinas und anderer Komponisten aus der Römischen Schule des 16. Jahrhunderts bearbeitet hat.

So erschien 1870 in Trier in der Lintz'schen Buchhandlung eine Motettenreihe mit dem Titel:

"Zwölf Motetten älterer Meister als Offertorien 
für die Hauptfeste des Jahres. In leichtem Arrange-
ment frei bearbeitet und seiner Bischöflichen Gnaden 
dem Hochwürdigsten Herrn Dr. Matthias Eberhard, Bischof
in Trier, in tiefster Verehrung gewidmet, von Michael
Hermesdorff" (90). 

Ein unbekannter Autor empfiehlt mit dem Beitrag Studien und Lesefrüchte über den sogenannten Palestrinastil diese Bearbeitungen den Kirchenchören als "Vorschule zum Studium und zur Aufführung der älteren Werke" (91).

Hermesdorff will in der Tat für einfache Chorverhältnisse probate Gebrauchsmusik schaffen mit dem didaktischen Ziel, so an den Palestrina-Stil heranzuführen. Seine Bearbeitung ist im Ergebnis eine Vereinfachung, keine Simplifizierung. Sie bewahrt die melodisch-klangliche Substanz mit Ausrichtung auf Homophonisierung des Tonsatzes, was dann auch eine quantitative Reduktion von 89 Takten des Originals auf 58 Takte der Bearbeitung zur Folge hat (s. NB 3 und 4).
Die Hermesdorffsche Bearbeitung deckt sich durchaus mit den damaligen aufführungspraktischen und ästhetischen Forderungen des Cäcilianismus allgemein. So hält der cäcilianische Wortführer Franz Xaver Witt das Arrangement des Benedictus für vier Stimmen von Francesco Anerio aus der Missa Papae Marcelli von Palestrina für besser, weil "leichter ausführbar, mir fast schöner klang, als das Original" (92). 

Hermesdorff erfüllt also mit seiner Palestrina-Bearbeitung (in den anderen elf Motetten verfährt er analog) das cäcilianische Kirchenmusikideal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das F.X. Witt in folgenden Worten zusammengefasst hat: "Der Ausdruck ist das Entscheidende, nicht die Form" (93).

Die kirchenmusikalische Reform hielt in Trier auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter den Dommusikdirektoren Johann Baptist Barthel (94), der lediglich ein Jahr (1885/86) im Amt war, und Philipp Jakob Lenz, der bis zu seinem Tod (1899) Domkapellmeister war, an. Lenz bildet im 19. Jahrhundert, zusammen mit Stephan Lück und Michael Hermesdorff, sozusagen das kirchenmusikalisch-reformerische "Dreigestirn" in Trier.

Philipp Jakob Lenz wurde am 1.1o.1848 in Manderscheid (Eifel) geboren. Nach seiner Priesterweihe 1871 studierte er in Regensburg Kirchenmusik bei Franz Xaver Witt (1834-1888), Franz Xaver Haberl (1840-1910), Michael Haller (1840-1915) und Ignaz Mitterer (1850-1924). Von daher ist es zunächst verständlich, dass er im Choral die römische Ausgabe Medicaea, die Hermesdorff abschaffte, favorisierte und diese am 1.1.1888, offiziell ab dem 25.3.1889, wieder im Dom einführte. Gleichzeitig schaffte Lenz die 4-stimmige Praxis des Choralgesangs in der Hermesdorffschen Fassung ab (95). 

Dies ist im Zusammenhang mit der unaufhaltsamen Romanisierung der Trierer Liturgie zu sehen, die unter dem vom französischen Restaurationsdenken geprägten Felix Michael Korum, der 1881-1929 Bischof in Trier war, betrieben wurde (96). Für Lenz, der, wie gesagt, unter Regensburger Einfluss stand, war das Prinzip der "Unitas" (der Einheit der Kirche) bei der Befürwortung der Editio Medicaea vordergründig (97). Lenz verfolgte das Ziel die Allein-Existenzberechtigung der Medicaea aufzuweisen, die jeder papsttreue, romtreue Katholik aus Gehorsamsgründen anzunehmen habe. An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Begriff "Palestrina-Stil" bzw. "Palestrina-Renaissance", der bzw. die auch eine Wiederbelebung des Gregorianischen Chorals impliziert, sich als eine Hülse, "als eine Chiffre für die unbedingte Unterwerfung unter die römischen Directiven" entpuppt (98).

Lenz pflegte an hohen Festtagen die altklassische Polyphonie, vor allem Palestrina und dessen Schule, wobei ihm natürlich auch die "Lück-Sammlung" zur Verfügung stand (99). Anläßlich eines feierlichen Pontifikalamts zum 34. Katholikentag in Trier am 29.08.1887 erklang neben einstimmigem Choral die fünfstimmige Palestrinamesse Dilexi quoniam, die weder in der "Lück-Sammlung" noch im "Catalog des Zweigvereins" angeführt ist, sondern in der Gesamtausgabe des Regensburger Choralforschers und Cäcilianers Franz Xaver Haberl (184o-191o) (100)). Der Kritiker der Trierischen Landeszeitung bemerkt über diese Aufführung: 

"In Anbetracht der großen Schwierigkeit der Messe, 
welche der erst kürzlich neu gebildete Chor sang, 
ist die ganze musikalische Verherrlichung des Ponti-
fikalamts als eine durchaus lobenswerte zu bezeichnen,
und werden die Gäste den Eindruck gewonnen haben, daß
Trier's Domkirche in kirchenmusikalischer Beziehung den
Hauptkirchen des Rheinlandes nicht nachsteht" (101). 

Daneben trat Lenz noch stärker als seine Vorgänger für die Werke der Cäcilianer ein, vor allem für den Regensburger Palestrina-Epigonen und Komponisten Michael Haller (184o-1915), dessen Offertorium Confirma hoc auch in diesem Pontifikalamt erklang (102). Lenz widmete sich vorwiegend der Verbesserung und Vervollkommnung des Domchores. Damit zusammenhängend gab er eine neue Methode des Gesang- und Instrumentalunterrichts an der Dom-Musikschule heraus (103). Das Schwergewicht der Ausbildung lag eindeutig auf dem Gesang. Die Instrumentalabteilung wurde - da sie überflüssig geworden war - schließlich 1897 abgeschafft. Für seinen entwickelten "Lehrplan" fand auch die "Lück-Sammlung" Verwendung; des weiteren heißt es im Bezug auf die klassische Vokalpolyphonie, dass sie "nicht auf Tonmalerei zu den einzelnen Worten, auf Erzielung effektvollster Nuancierung" abzielt (104). Lenz war, wie Lück, offensichtlich auf eine in Tempo und Dynamik maßvoll ausgeglichene Interpretation der Werke Palestrinas bedacht. Er favorisierte eine "Interpretation der Mitte", die Hermesdorff offenbar verlassen hatte.

Schlussbetrachtung

Die Aufführungspraxis altklassischer Vokalmusik des 16. Jahrhunderts mit Palestrina als dem zentralen Komponisten war offenbar in Trier im 19. Jahrhundert nicht kontinuierlich. Zur Zeit Johann Baptist Schneiders wurden diese Werke mit Orgelbegleitung, wie die Orgelauszüge belegen, musiziert. Sein Nachfolger Stephan Lück gestattete zumindest partiell Orgelbegleitung. Hermesdorff hat offenbar die unbegleitete Aufführung favorisiert, wenn er im Vorwort zu seiner "verbesserten und vermehrten Sammlung-Lück" das Fehlen eines Orgelauszugs damit begründet, dass dieser "für die Sänger störend sein könnte", oder wenn sein Nachfolger Johann Baptist Barthel die Ausübung der Doppelfunktion Organist und Dommusikdirektor unter einer Hand bei seiner Bewerbung durchaus für möglich hält, "da die polyphonen Messen, welche bei festlichen Gelegenheiten zum Vortrage gelangen, immer ohne Orgelbegleitung gesungen werden" (105). Sicherlich wurden auch unter Philipp Jakob Lenz Werke der klassischen Vokalpolyphonie a cappella aufgeführt.

Begünstigten Lück in der Mitte des Jahrhunderts und Lenz am Ende des Jahrhunderts eine "Interpretation der Mitte", eine ausbalancierte, in sich ausgewogene Aufführung der Werke Palestrinas und anderer Meister dieser Zeit, eine Interpretation ohne jedweden romantisch-emphatischen Überschwang, so bejahte Hermesdorff - wie seine Edition zeigt - eine durchaus romantisch-beseelte, facettenreiche Interpretation. Hierin berührt sich Hermesdorff in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem cäcilianisch-aufführungspraktischen Kirchenmusikideal, wie sie etwa Franz Xaver Witt in den Fliegenden Blättern für katholische Kirchenmusik von 1873 überliefert. Witt macht auf eine Lektion aufmerksam, die er einem Chor und seinem Dirigenten in Schramberg nach der aufgeführten Missa Brevis von Palestrina erteilte: 

"Nachdem die Messe fertig gesungen war, ging ich 
... auf den Chor und erläuterte zuerst, wie das 
'Gloria' und das 'gratias' sich bis 'Deus Pater' 
immer mehr entwikeln und steigern müsse, bei 'Domine
Deus, rex coelestis' den Höhepunkt (durch allmäliges
aber immerwährendes cresc. und string.) erreiche, um
wieder bei 'Deus Pater' ruhiger zu beginnen und, das
'Jesu Christe' verlangsamt cresc. und besonders den
Schluss vor 'qui tollis' kräftig und breit herausheben
zu können. Darauf liess ich das 'Christe eleison' singen, 
viel zarter als zuvor, anfangen, steigern und 
besonders die letzten vier Takte immer mehr cresc. und
ritard. heraustreten" (106).

Auch fügt sich die Tatsache in das cäcilianische Kirchenmusikideal dieser Zeit ein, dass Hermesdorff als einziger in Trier ältere Werke des 16. Jahrhunderts bearbeitet hat, um so leichter an den Palestrina-Stil heranzuführen; des weiteren aber auch, weil der homophone, einfachere Satz aufgrund seiner Klarheit und Verständlichkeit dem polyphonen, wenn auch kunstvolleren Tonsatz vorzuziehen ist. Deshalb versagt Witt etwa zweihundert Werken von Palestrina wegen des Zuviel an "kontrapunktischer Mache" die Aufnahme in den ab 1873 erschienenen Cäcilien-Vereinskatalog (107).

Somit steht Hermesdorff durchaus im Strom seiner Zeit. Isoliert dagegen steht der akribische Choralforscher Hermesdorff - seine reformerische Strenge bekunden übrigens auch seine eigenen Kompositionen, im Gegensatz etwa zu den spärlich wenigen Werken von Lück und Lenz, die zum Teil "modern" anmuten - in der vierstimmigen Ausharmonisierung und auch Ausführung des gesamten Gregorianischen Chorals mit Orgelbegleitung, was auch Stein des Anstoßes wurde. Der ultramontan-römisch gesinnte Philipp Jakob Lenz, aus der Regensburger Schule kommend, machte dieser Praxis ein Ende. Unter dem Nachfolger Wilhelm Stockhausen - er war von 1900 bis 1934 Domkapellmeister in Trier - wurde das Repertoire erheblich erweitert. Stockhausen stellte neue Weichen für die zukünftige Trierer Dommusik, ja, er öffnete Schranken trotz tiefer Verwurzelung im Schaffen Palestrinas (108), wenn er Weihnachten 1911  die mit Chromatik und Wagnerscher Leitmotivik durchsetzte Sigismund-Messe des Neuromantikers Peter Griesbacher (1864-1933) aufführte. Klerus und Laien waren von der Aufführung begeistert.
 

Der Artikel erschien im Kurtrierischen Jahrbuch 36, Trier 1996.
www.trierer-orgelpunkt.de bedankt sich beim Autor für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.