Mein früherer Beitrag zu den "Sieben Goldenen Regeln des Orgelübens" begann mit der provokanten Aussage "Let’s not beat around the bush", der gleichermaßen auf die hier zu behandelnde Thematik zutrifft. Zugegebenermaßen, wir sind häufig faul und behaupten arrogant, brillante Vom-Blatt-SpielerInnen zu sein, ungeachtet der Tatsache, dass nur wenige von uns diese (etwas eingeschränkte) Fähigkeit besitzen. Eingeschränkt? Wirklich? Warum? Nun, im Harvard Dictionary of Music findet man folgende Definition von "sight reading":
Hilfreiche und sinnvolle Fingersätze
The ability to read and perform music at first sight, i.e., without preparatory study of the piece. This type of playing makes entirely different demands on the performer from those of ordinary finished playing. In fact, from the technical as well as the psychological point of view, it is its very opposite, so that accomplished pianists and virtuosos are very poor at sight reading.
Was nützen Fingersätze überhaupt?
Wir stellen erleichtert fest, dass es sinnvoll und hilfreich ist, Fingersätze zu verwenden. Aber was nützen uns Fingersätze überhaupt? Sie können Wunder bewirken und gleichzeitig eine immense Zeitverschwendung sein, wenn man sie auf altmodische Weise verwendet. Das bedeutet, das erfolgreiche Erarbeiten eines beliebigen Werkes aus der Romantik oder Gegenwart (die Stilepochen, die ich hier anspreche) hängt wesentlich von der richtigen Verwendung eines Fingersatzes ab.
Lässt sich ein Werk in angemessener Zeit erlernen, so nenne ich die darin verwendeten Fingersätze "schlau". Falls sich beim Üben zu viele Fehler, Verspannungen und technische Nervosität einschleichen, empfiehlt sich die aufmerksame Lektüre dieses Artikels. Zur Erinnerung: Let’s not beat around the bush! Fast alle Organistinnen und Organisten, selbst die bekanntesten, könnten sicherlich etwas Hilfe gebrauchen und möglicherweise einen viel einfacheren Weg finden, um die heutige Aufgabe zu lösen: Ein äußerst langsames Lesen und Durchspielen meiner mit Fingersätzen versehenen Fuge aus Josef Rheinbergers großartiger Orgelsonate Nr. 17 op. 181 in H-Dur. H-Dur: zahlreiche weite Griffe, viele schöne Kreuze, eine Menge hübscher Doppel-Kreuze, und unzählige liebenswerte Auflösungszeichen; eine regelrechte "Spielwiese" (oder vielleicht eher Hölle?) zum Testen unseres lausigen Vom-Blatt-Spiels!
Ich rate der geneigten Leserschaft, einen spitzen Bleistift für zahlreiche "schlaue" Fingersätze bereitzuhalten. Kochen Sie gerne? Ohne Kochbuch? Das will ich hoffen! Es ist nämlich ein ähnliches Problem, mit schlauen Fingersätzen zu experimentieren, um den technischen "Geschmack" genau zu treffen. Vergleichbar mit Grundregeln beim Kochen, wie etwa der richtigen Verwendung von Salz (der gefährlichsten Zutat, die ich kenne), sind grundlegende Richtlinien bei der Erstellung von schlauen Fingersätzen zu beachten.
So provozierend es klingt: Pianistische Fingersätze können zwar ein Ausgangspunkt sein, in Anbetracht der komplexen technischen Anforderungen des Orgelrepertoires sind sie aber letzten Endes eine zu große Einschränkung. Sieht man sich dann in dieser Gourmet-Küche der Rheinberger-Fuge in H-Dur gegenüber, wird es höchste Zeit, die Herdpfanne auf die richtige Weise zu erhitzen, um sich nicht die Finger zu verbrennen.
Trotzdem verbrennen wir uns immer wieder, etwa durch unnötige Verkrampfungen aufgrund bestimmter Fingersätze. Darüber hinaus vergisst man gerne, dass ein steifes Handgelenk der schnellste Weg zu schmerzhaften Sehnenscheidenentzündungen ist, einer ziemlich eindrucksvollen Ausrede, das Üben gänzlich abzubrechen. Zumindest ist dies der häufigste Ratschlag der Ärzte, die einen intelligenteren Ausweg aus dieser verfahrenen Situation nicht kennen. Zum Glück gibt es Organistinnen und Organisten (mich selbst eingeschlossen), die selbst nach stundenlangem Üben für Wettbewerbe niemals auf derart unangenehme Ausreden zurückgreifen müssen. Die allerwichtigsten "Zutaten" für eine solche Freiheit sind entspannte und gelöste Hände, Handgelenke und Arme. Oder, militärisch gesprochen: "LOCKERLASSEN!!!" – "Zu Befehl!".
Schlaue Fingersätze beruhen auf diesem äußerst wichtigen "Küchenrezept": Nicht verspannen! Bei genauerer Beobachtung werden Sie auf einmal mit Fingersätzen experimentieren und entsprechende Lösungen entdecken, die Sie in Ihrer bisherigen musikalischen Laufbahn weder kannten oder gar zu verwenden gewagt hätten! Ein weiteres Schmunzeln gefällig?
Warum nennen wir dieses mutige Experimentieren mit „Zutaten“ nicht einfach „Mogeln“? Nur keine falsche Zurückhaltung! Schließlich lernen wir hier zu „mogeln“, um allen anderen Organisten etwas voraus zu haben und im sprichwörtlichen Sinne die Vergangenheit zu übertreffen! Der Begriff „mogeln“ kommt uns sehr gelegen, da er jene abscheuliche Spreiztechnik, auch „göttliches Legato“ genannt, ins wohlverdiente Abseits verbannt.
Diese entsetzlichen Legato-Spielgewohnheiten hindern uns nämlich daran, die folgende Mogel-Technik in Erwägung zu ziehen, d. h. schlaue Fingersätze.
Übersetzt:
Die Fähigkeit, Musik auf Anhieb zu lesen und zu spielen, d. h. ohne vorherige Vorbereitung des Stückes. Diese Art des Musizierens stellt völlig andere Anforderungen an den Ausführenden als die "normale" vollendete Interpretation. Sie stellt sowohl unter technischen als auch psychologischen Aspekten das genaue Gegenteil dar, so dass versierte Pianisten und Virtuosen keine guten Vom-Blatt-Spieler sind.
Stupide Fingerabfolgen vermeiden!
Die erste unserer Mogel-Techniken
Tatsächlich kann dies jeder beliebige unserer zehn verängstigten und entnervten Finger sein, abhängig vom jeweiligen musikalischen Kontext. Vereinfacht gesagt: Vermeiden wir so oft wie möglich stupide Fingerabfolgen und stumme Fingerwechsel. Stummer Fingerwechsel, auch Substitution genannt, ist wahrscheinlich das größte Hindernis, um schnell zu lernen (man denke an meinen früheren Vergleich mit dem Kochen ohne Kochbuch und der Verwendung von Salz). Er verlangsamt nicht nur das Lerntempo, sondern vergeudet einen Großteil unserer Energie. Darüber hinaus zerstört stummer Fingerwechsel zu einem gewissen Grade die Klarheit im Spiel, worüber wir später noch sprechen werden. Schauen wir einmal genauer, wie nützlich die eben beschriebene Technik sein kann.
Sie befreit uns nicht nur von gewissen Fingerverspannungen, sondern auch vom uns liebgewonnenen altmodischen Spinnen-Legato. Im richtigen Zusammenhang angewendet, ermöglicht diese natürliche Mogel-Technik größtmögliche Transparenz, ganz im Gegensatz zum vertrauten klebrigen Velveta-Schmelzkäse-artigen Klangbild. Bessere Klangqualität aufgrund von Fingersätzen, fragen Sie sich? Das soll wohl ein Witz sein! Es scheint, dass wir jetzt mit zuviel Knoblauch kochen. Warten Sie mal! Wir suchen nach exakt der richtigen Menge Knoblauch, in Bezug auf Klangvorstellungen. Dies sind unsere heutigen Klangideale, welche die Wahl des Anschlags und Fingersatzes beeinflussen sollten.
Warum muss man heutzutage Karl Straubes vollgriffiges Reger-Legato auf modernen Orgeln blind kopieren, auf Instrumenten, denen völlig andere Klangkonzepte als vor 70 Jahren zugrunde liegen (hoffentlich sinnvollere als ein akustisch toter Konzertsaal)? Genauer gesagt, es müssen nicht dieselben Fingersätze à la Straube sein, die wir auf modernen Orgeln im Plenum- oder Tutti-Klang benutzen. Unsere Hörgewohnheiten haben sich derart gewandelt, dass schmelzkäseartiger Anschlag in romantischer Musik heute nur unter großen Schmerzen zu ertragen ist. Orgelregistrierungen bei romantischer Musik im Forteklang fordern normalerweise einen stärker akzentuierten und strukturierten Anschlag, um größtmögliche Klarheit zu erreichen. Daher sind wir beim „Kochen“ auf der sicheren Seite, wenn wir dieselben Finger gelegentlich mehrfach aufeinanderfolgend benutzen. Dies schließt, da häufig unumgänglich, die zwei-, drei- oder gar vierfache Verwendung der Daumen in Folge in den Mittelstimmen ein, um komplexe Stimmführungen bewältigen zu können, ohne sich völlig zu verzetteln. Man kann diese Art von Fingersatz die „fröhliche Grashüpfer-Technik“ nennen. Marcel Dupré hätte höchstwahrscheinlich zur Bewältigung dieses künstlichen Klebe-Legatos in heldenhafter Weise ein schmieriges Snowboard-Daumenlegato empfohlen, ein schlichtweg schauderhafter Effekt in so eindrucksvollem Forteklang. Heutzutage müssen wir nach Klarheit und Transparenz suchen, vergleichbar mit durchsichtigen Jalousien vor einem Fenster, die wohldosierte Lichtdurchlässigkeit statt völliger Dunkelheit ermöglichen. Unser Grashüpfer springt aber nur dann, wenn das Handgelenk die Hüpfer unterstützt! Fingersprünge alleine sind weder angenehm noch erfolgversprechend. Sie erfordern ein gelöstes Handgelenk.
Betrachten wir ein weiteres schlaues Küchengewürz: Genau dann Überkreuzen, wenn Gott uns eigentlich einen sechsten Finger gegeben haben müsste! Das klingt vielleicht lecker, mit 1-2-3-4-5-4! Nennen wir das einfach, nur zum Spaß, den „Kleinen Finger-Ersatz“! Es wird Zeit, wieder einmal herzlich über die bisherigen Verwirrungen zu lachen. Warum unter Schmerzen den Daumen untersetzen, wenn das Überkreuzen mit anderen Fingern viel eleganter aussieht, vielleicht sogar mit einem hübschen seitlichen Abrollen? Das Ergebnis: ungeahnte spieltechnische Glücksmomente und Geschmeidigkeit, in Verbindung mit einem überlegenen Lächeln bei der sicheren „Landung“. Oh ja, appetitliche Gerichte, und vor allem Zeitersparnis beim Üben! Aber bleiben wir dabei nicht stehen. Es gibt noch andere raffinierte Wege für „Seitensprünge“, z. B. 1-2-3-4-3, oder 2-3-2-3-4, vor allem dann, wenn Obertasten verwendet werden, oder um ein sicheres Erreichen der Endnote zu erleichtern. Sogar die gewagte Abfolge 1-2-3-4-2 ist gelegentlich denkbar, die ein angenehm artikuliertes paralleles Verschieben der Hand erlaubt; abhängig vom musikalischen Kontext bereitet dies die Hände für bevorstehende Griffe vor.
Der Autor:
Prof. Wolfgang Rübsam lehrte über 23 Jahre Künstlerisches Orgelspiel an der Northwestern University in Evanston (USA). 1996 erhielt er eine Professur für Orgel an der Hochschule für Musik Saar in Saarbrücken. Seit seiner Emeritierung 2011 lebt er wieder in den USA. International bekannt wurde der erfolgreiche Konzertorganist und Chartres-Preisträger durch seine mehr als 130 Einspielungen, darunter zwei Gesamteinspielungen sämtlicher Orgelwerke von Bach, sowie Gesamteinspielungen der Orgelwerke von Alain, Buxtehude, Franck, Mendelssohn Bartholdy und Vierne. Hinzu kam die Einspielung der 20 Orgelsonaten von Josef Rheinberger.
Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Martin Welzel
Und schließlich...
Sind Sie bereit für eine weitere Straftat? Glauben Sie mir, das Kochstudio ist fast schon zu Ende, aber bekanntlich kommt das Schönste immer am Schluss. Wir verwenden nun bereits dieselben Finger mehrfach hintereinander; ebenso dürfte es allgemein bekannt sein, dass die körperliche Koordination im Orgelspiel eine der am schwierigsten zu erwerbenden Fähigkeiten ist.
Auf diesem Hintergrund lautet die beste Mogel-Technik für Organisten:
Eselsbrücken: Parallele Fingersätze
Das bedeutet, in beiden Händen werden simultan dieselben Finger verwendet, oder zumindest fast gleichzeitig. Parallele Fingersätze sind gewissermaßen Eselsbrücken, die den Notentext zusammenhalten. Auf solche oftmals unterschätzten „Handgriffe“, die viele schwierige Passagen erleichtern, können Sie sich hundertprozentig verlassen. Es hängt dabei ganz in Ihrer Verantwortung, die entsprechenden Problemzonen einzugrenzen, und nicht in der sturen Befolgung von vorgegebenen Phrasierungs- oder Legatobögen des Komponisten. Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Längere Bögen im Notentext sollten keinesfalls bestimmte Fingersätze diktieren, da sie in den seltensten Fällen ausdrückliches Legatospiel implizieren. In den Werken von Josef Rheinberger und Max Reger, um nur stellvertretend zwei Namen zu nennen, sind solche Bögen vielmehr zeitgemäße kompositionstechnische Übereinkünfte, um dem Interpreten musikalische Spannungsverläufe, nicht jedoch spezifische Anschlagsarten oder Phrasierungen, aufzuzeigen und zu verdeutlichen.
Selbstverständlich gibt es immer Ausnahmen; aber humorvoll gesagt, wenn wir keine 20 Finger besitzen, wird die Spinne wohl kaum dazu in der Lage sein, ihre fette Beute in der dicken Tinte so mancher Orgelnoten der Romantik zu jagen. Jedenfalls ist mir noch niemand begegnet, der zwei Oktaven in einer Hand greifen kann und den oftmals weitgriffigen Notensatz bei Rheinberger problemlos bewältigt hat. Zusammengefasst, es ist viel einfacher, von vorneherein natürliche Fingersätze, die jegliche Probleme eliminieren, statt zeitraubende und eher schmerzhafte Spreiz(„Spinnen“)-Fingersätze, zu verwenden.
Ein aufmerksames und langsames Durchspielen der Rheinberger-Fuge wird diese Aspekte veranschaulichen. Behalten Sie daher unsere bislang gewonnenen Erkenntnisse im Hinterkopf, da jeder einzelne Takt mit entsprechenden Fingersatz-Vorschlägen versehen ist. Es sei darauf hingewiesen, dass Terzpassagen, wenn möglich, mit 1-3, 2-4 3-5 (in Ausnahmefällen auch mit 1-2 und 2-3) gespielt werden, um Terzgrätschen wie etwa 3-4 oder 4-5 zu vermeiden. Darüber hinaus wird die Verwendung von Daumen und kleinem Finger auf den Obertasten so oft wie möglich umgangen. Dasselbe betrifft (aus recht offensichtlichem Grund) das von Natur aus schwache Fingerpaar 4-5.
Fingersätze, auch Ihre eigenen, müssen stets hinterfragt werden. Denken Sie aber daran, das Kritik nur dann gerechtfertig ist, solange Sie keine bessere Lösung gefunden haben, die den Lernprozess beschleunigt und die Koordination (auch zwischen Händen und Füßen!) verbessert. Überhaupt sollten wir jederzeit nach besseren Lösungen suchen, die man auch als „Nachwürzen mit schlaueren Fingersätzen“ bezeichnen kann. Die mit Fingersätzen versehene Fuge soll hierbei als Lernbeispiel dienen. Jeder einzelne Takt wird hinreichende Grundlagen zur allgemeinen Diskussion und weiterführende Lösungsmöglichkeiten bieten.
Letzten Endes sollte jeder ernsthafte Organist zum Nachdenken angeregt werden und, so hoffe ich, neue Wege zur Erlangung einer erstaunlichen spieltechnischen Leichtigkeit sowie der Transparenz und Klarheit bezüglich Klangbild und Polyphonie zu finden, ohne jedoch die romantische Linie und den Spannungsverlauf zu zerstören, als Beispiel für künftig zu erarbeitende Werke. Mein Wunsch ist, dass das Schmunzeln über unsere „Kochstunde“ zu einem geschärften und kritischen Bewusstsein im Hinblick auf „schlaue Fingersätze“ verhilft. Dies zählt nämlich zu den bestgehütetsten Geheimnissen von Orgelwettbewerbs-Preisträgern der Vergangenheit und Gegenwart! In aller Bescheidenheit hoffe ich, dass dieser Beitrag zur besten Orgelstunde wird, die Sie jemals erlebt haben.
Viel Spaß beim Mogeln!