Regeln & Anregungen von Prof. Wolfgang Rübsam
Orgelüben: Von der Not, Notwendigkeit und (verborgenen) Freuden einer leidigen Pflicht
„Let‘s not beat around the bush“ stellt im Englischen die geflügelt charmante Aufforderung an sein Gegenüber dar, doch möglichst ohne Umschweife direkt zum Thema zu kommen. Dasselbe möchte ich hiermit tun, und der Leser mag hinter dieser ungestümen Ankündigung bereits jene Realitäten wittern, die den Pädagogen zu einem derartigen Unterfangen veranlassen. Natürlich wird ihm auch der provozierende Charakter mancher Statements ebenso wenig verborgen bleiben wie diese bewußt so von mir formuliert wurden: Organisten gelten gemeinhin als übfaul, nicht gerade übermotiviert zu harter und ausdauernd-disziplinierter Arbeit am Instrument; dies zeigt zumindest ein viertel Jahrhundert pädagogische Erfahrung in vielen europäischen Ländern und in Übersee. Und wenn wir Organisten uns schon einmal zum Üben aufgerafft haben, geschieht das Wie des Übens leider in einer häufig sehr uneffektiven Weise.
Freilich stellt sich die tatengebärende Einsicht in die Notwendigkeit des Üben-Müssens oft erst dann ein, wenn es bereits „Fünf vor Zwölf“ geschlagen hat und die innere Ampel des Gewissens schon längst auf rot geschaltet hat. Wenn der Druck der Sachzwänge durch nahende Prüfungs- oder Konzerttermine so stark geworden ist, dass selbst die virtuos entwickelte Fertigkeit im Ausreden-Erfinden nicht mehr weiter hilft; erst dann beginnen viele Organisten mit dem Üben im eigentlichen Sinne; nur: der Zug ist zu diesem Zeitpunkt meist längst schon abgefahren.
In der kurzen Zeit, die oft zum Üben verbleibt, sehnt sich der Spieler verständlicherweise nach handfesten und v. a. raschen Übresultaten. Freilich stellt sich jetzt um so gebieterischer die Gretchenfrage nach dem „Wie“ eines wirklich effektiven Übens. Oder sagen wir es mit den Worten des großen Franz Liszt: „Nicht auf das Üben der Technik, sondern auf die Technik des Übens kommt es an!"
Nun, es führen viele Wege nach Rom, nur bekanntlich der Mittelweg falscher Kompromisse nicht (A. Schönberg). Erkunden wir daher im Folgenden für uns einen gangbaren Weg, der wohl zum gewünschten Ziel eines respektablen und sicheren Orgelspiels führt, aber u. U. dennoch angenehmer zu beschreiten ist als manch uneffektiver und stupider Holzweg des zeitraubenden und kopflosen Einschleifens von Noten und Notenhälsen. Dazu erstellen wir einen Katalog von sieben goldenen Regeln des effektiven Orgelübens, deren löbliche Beachtung die schlimmsten Kardinalsünden bei der Arbeit am Instrument verhindern helfen sollen.
Das Fundament
Regel 1 - Das Schuhwerk des Organisten:
Das geeignete Schuhwerk des Organisten besteht aus „passenden“, d. h. wirklich sitzenden Schuhen (leider keine Selbstverständlichkeit!), mit nicht zu hohen oder zu flachen Absätzen sowie einer dünnen Sohle (Leder- oder Gummisohle, je nach leidlichen Rutschgewohnheiten oder löblicher Platzierung des Fußsatzes „in the first place“).
Regel 2 - Die Sitzposition auf der Orgelbank:
Die Orgelbank sollte auf eine angenehme Höhe eingestellt werden, so dass das Absatzspiel des Fußes gerade so, jedoch bequem realisierbar ist (bitte nicht bequemer!). Die Rumpfposition kommt auf der vorderen Hälfte der Orgelbank eingenommen zu stehen, damit ein flexibler fester Angelpunkt für eine radiale Drehbewegung der Beine beim Erreichen der extremen Bass- und Diskantlage des Pedals ohne vermeidbaren Bewegungsaufwand (Verrutschen) des ganzen Körpers gewährleistet ist.
Regel 3 - Die Körperhaltung des Spielers:
Noch vor dem Aufschlagen der Noten empfiehlt es sich, die Wirbelsäule „militärisch“ gerade aufzurichten, damit nicht am Ende - wie bei so manchem Kollegen - die orthopädischen Spätfolgen oder der sprichwörtliche „Organistenbuckel“ als Konsequenzen einer ungesunden Körperhaltung alle Übfreuden zunichte machen.
Der Lernvorgang
Regel 4 - Die erste Begegnung mit dem Notentext:
Die erste Annäherung an das neu zu erarbeitende Orgelstück sollte durch das einmalige (!), jedoch stark verlangsamte Prima-vista-Spiel des Notentexts geschehen. Dies entspricht gewissermaßen einer ersten Weitwinkelperspektive auf die architektonische Grobstruktur in der Zeitlupe. Der Spieler wirft sozusagen den ersten Blick auf den Bauplan eines neuen Haus, das er zu bauen und demnächst zu beziehen gedenkt.
Regel 5 - Finger- und Fußsätze:
Erfindung und schriftliche Fixierung optimaler „schlauer“ Finger- und Fußsätze für das ganze Werk. Bei großen und komplexeren Stücken kann dies zunächst auch für sinnvoll ausgewählte Teilpassagen geschehen.
Regel 6 - Der Übvorgang:
Es empfiehlt sich, kleingliedrige Abschnitte in leiser Registrierung mehrfach in Zeitlupen-Tempo zu studieren. Die strikte Beachtung des einmal verbindlich fixierten Finger- und Pedalsatzes ist dabei eine unerlässliche Bedingung für den Erfolg. Es ist darauf zu achten, dass analoge Parallelstellen im Text auch konsequent mit möglichst identischen Finger- und Fußsätzen bezeichnet werden.
Regel 7 - Das Endziel: Auswendigspiel und Gedächtnisschulung:
Es empfiehlt sich gleichfalls, so früh wie möglich einzelne Übbausteine und später sukzessive größere Einheiten am Instrument auswendig zu memorieren, um das taktile und auditive Gedächtnis von Anfang an zu trainieren. Logische und analoge Finger- bzw. Fußsätze sind hierfür die wichtigste Basis, besonders im Bereich der motorischen Gedächtnisstütze.
Freilich mögen – und sollen – die unter Regel 1 bis 7 vorstehend formulierten Grundsätze leicht wie eine stechende „Dornenkrone“ auf dem Haupt des organistischen Ego erscheinen. Und gewiss ist es peinlich, hier mitunter die mehr oder weniger bewussten Sünden eigener alltäglicher Üb- und Spielpraxis am Pranger zu entdecken; aber unterziehen wir uns dennoch den läuternden Reinigungen dieses virtuellen Fegefeuers, das wir nun einmal angezündet haben, und betrachten im Folgenden jeden der benannten Punkte noch einmal im Einzelnen und genauer.
Der Autor
Prof. Wolfgang Rübsam verfasste den Artikel auf Anregung von Josef Still für die Zeitschrift "Kirchenmusik im Bistum Trier" im Jahr 2000. Mittlerweile hat ORGAN, das Orgeljournal des Schott-Verlags, den Artikel nachgedruckt.
www.trierer-orgelpunkt bedankt sich beim Autor und beim Bistum Trier für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.
Professor Wolfgang Rübsam lehrte von 1974 ab Künstlerisches Orgelspiel an der Northwestern University Chicago/USA. Nach 22 Jahren universitärer Tätigkeit in den U.S.A. wurde er 1996 in der Nachfolge von Daniel Roth als ordentlicher Professor für Orgel an die Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater in Saarbrücken berufen. Seit seiner Emeritierung 2011 lebt er wieder in den USA.
International bekannt wurde der internationale Konzertorganist und Chartres-Preisträger durch seine über 130 Tonträgereinspielungen, darunter zahlreiche Gesamtwerke für Orgel.
Maitre Rübsam bestand deutsche Meisterprüfung im Frisörhandwerk!
Gefunden in "alla breve", der Zeitschrift der Hochschule für Musik Saar, Saarbrücken (Ausgabe Wintersemester 2005-2006).